Gute Sätze 2024 – Teil 1

Tschau 2024! Auch  dieses Jahr waren bei Saiten wieder denk- und diskussionswürdige Sätze zu lesen. Hier unsere höchst subjektive Auswahl aus Print und online von Januar bis Juni.

Ende gut, alles gut? Zumindest in der Saiten-Fotolovestory im Aprilheft war es so. Konzipiert wurde sie von Mindaugas Matulis und der Saiten-Grafik. Hoffen wir auf ein ebenso versöhnliches Jahresende! 

Ei­ner mei­ner neu­en Tisch­nach­barn sag­te mir letz­tens «Ich ha­be dich ein biss­chen be­ob­ach­tet, und du guckst in die­sem Par­la­ment im­mer drein wie Ali­ce im Wun­der­land». Ab­ge­se­hen da­von, dass kein Ü50-Mann ei­ner jun­gen Frau sa­gen soll­te, dass er sie «ein biss­chen be­ob­ach­tet hat», stimmt das schon: Es ist ein Wun­der­land. Ein Wun­der, dass ich das ma­chen darf. Und wun­der­sam, wie ich das al­les ler­nen soll. 

An­na Ro­sen­was­ser in ih­rer letz­ten «Ne­ben­bei gay»-Ko­lum­ne.

 

Sa­voir­So­cial, der Dach­ver­band für die Be­rufs­bil­dung im So­zi­al­be­reich, spricht da­von, dass man als So­zi­al­ar­bei­ter:in oder So­zi­al­päd­agog:in ei­nen ak­ti­ven Bei­trag für ei­ne le­ben­di­ge Ge­sell­schaft leis­te, in der al­le ih­ren Platz ha­ben. Ent­spricht dies den Tat­sa­chen? Will die Ge­sell­schaft über­haupt, dass al­le ei­nen Platz ha­ben in der Ge­sell­schaft? Oder nicht doch eher ei­nen klar zu­ge­wie­se­nen Platz am Rand, wo man nie­man­den stört?

Bi­an­ca Schel­lan­der über burn­out­ge­fähr­de­te So­zi­al­ar­bei­ten­de im Schwer­punkt «So­zia­le Ar­beit un­ter Druck» im Ja­nu­ar­heft.

 

Die men­schen­ver­ach­ten­de Bru­ta­li­tät na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher und sta­li­nis­ti­scher Ver­bre­chen ha­ben wir in un­se­rem kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis in der Ru­brik «Ge­schich­te» ab­ge­legt. Ge­schich­te je­doch wie­der­holt sich, wie sich nicht zu­letzt an Plä­nen deut­scher rechts­extre­mer Krei­se für ei­ne Mas­sen­de­por­ta­ti­on von Men­schen mit Mi­gra­ti­ons­ge­schich­te in ein un­be­stimm­tes afri­ka­ni­sches Land zeigt – man spricht gar von ei­ner «Wann­see­kon­fe­renz 2.0». 

Fran­zis­ka Span­ner in ih­rer Be­spre­chung des Stücks Kal­lo­cain am Thea­ter Kon­stanz. 

 

Al­so muss Sex and the Ci­ty war­ten. Zu­erst wird über­lebt, als Fels in ei­nem Meer aus Trä­nen und Trau­ma­ta. Die mo­nat­li­chen Dead­lines die­ser Ko­lum­ne wer­den Ver­pflich­tun­gen sein, nicht pri­mär da­zu, ei­nen Text zu lie­fern, eher da­zu, noch­mals ein Heft lang am Le­ben zu blei­ben. 24/7 Trau­ma­co­re halt. 

Mia Nä­ge­li in ih­rer ers­ten 24/7 Trau­ma­co­re-Ko­lum­ne

 

Doch et­was lief schief. Es wur­de mir klar, als das Dröh­nen vom Mor­gen jetzt we­sent­lich lau­ter wur­de. Es war ei­ne Luft­an­griffs­war­nung. Der al­ler­schlimms­te Klang auf Er­den. Man ver­gisst ihn nie wie­der, selbst wenn nur ein­mal ge­hört. Da ha­be ich end­lich ver­stan­den, dass es kein Traum war. Et­was Schreck­li­ches war vor­ge­fal­len. 

Li­li­ia Matviiv in ih­ren Er­in­ne­run­gen an den 24. Fe­bru­ar 2022 im Fe­bru­ar-Heft.

 

Die Gal­len­stadt will vor­wärts­kom­men, ja­ja, sie schafft jetzt wie ver­rückt Be­geg­nungs­zo­nen, Blu­men­trö­ge, Ta­feln und al­le zehn Me­ter ein Not­knopf, falls sich je­mand be­geg­nungs­un­fä­hig oder sonst­wie un­wohl fühlt, lan­ge wird es nicht mehr dau­ern, bis man ver­zwei­felt die we­ni­gen Stel­len sucht, wo die Stadt noch Stadt und nicht zur Be­geg­nungs­zo­ne ver­dammt ist. 

Charles Pfahl­bau­er jr. in sei­ner letz­ten Ko­lum­ne «Je­de Ei­che war ein­mal ei­ne Ei­chel» 

 

Im Stadt­bild sind ei­ni­ge die­ser Licht­spiel­thea­ter noch im­mer prä­sent. Es ist wie mit Kir­chen oder Sport­sta­di­en: Auch wenn sie ih­ren Zweck längst ver­lo­ren ha­ben, scheint es, als wür­den sie bloss pau­sie­ren. Als könn­ten sie je­der­zeit wie­der in Be­trieb ge­nom­men wer­den.

An­dre­as Kneu­büh­ler über die Ki­no­stadt St.Gal­len im März-Schwer­punkt zu 100 Jah­ren Pa­lace .

 

Ani­ta Zim­mer­mann ist nun blank. Manch­mal sind auch die Ner­ven blank. Die frei­wil­li­ge Kol­lek­te hat we­nig ein­ge­bracht. Der Fi­nan­zie­rungs­plan ist aus dem Gleich­ge­wicht ge­ra­ten. Oder er war ein­fach zu we­nig wich­tig, we­ni­ger wich­tig als das, was im «Him­mel Hel­ve­tia» al­les mög­lich ge­wor­den ist. Der Traum von fai­ren Löh­nen für Kul­tur­ar­beit bei den Ma­cher:in­nen bleibt vor­der­hand ein Traum. Da­für ist der Traum von mehr Sicht­bar­keit für das, was Kunst in St.Gal­len kann, Wirk­lich­keit ge­wor­den.

Ur­su­la Bad­rutt über Ani­ta Zim­mer­mann und ihr Pro­jekt Him­mel Hel­ve­tia.

 

Zeit­ge­nös­sisch ist Reinfrank nicht zu­letzt, wo er mit der Seich­tig­keit ge­wis­ser Selbst­be­haup­tun­gen in Kunst­markt und Krea­tiv­in­dus­trien in Kon­flikt tritt. Sei­ne Per­for­mance des All­tags, die zu­gleich Per­for­mance im All­tag meint, ist ra­di­ka­ler, aber auch viel fei­ner als sol­che Be­griffs­hül­sen. Sein Werk zeigt, wo die Ge­gen­wart hin­ge­hen könn­te, wür­de sie sich für ih­re ei­ge­nen Be­grif­fe in­ter­es­sie­ren.

Mi­cha­el Fe­lix Grie­der über den ver­stor­be­nen St.Gal­ler Künst­ler Her­mann Reinfrank

 

Ja: Manch­mal sieht man aus dem Fens­ter ei­nen Baum und kann sich auf­bau­en an sei­nem ru­hi­gen Da­ste­hen, sei­nem tief ins Erd­reich rei­chen­den Wur­zel­werk, sei­nem Ra­gen in den Him­mel, sei­nem weit­ver­zweig­ten Über­ste­hen der Win­ter­zeit. Und manch­mal leuch­tet ein Buch, gibt Hoff­nung, stif­tet ei­nen Stern.

Flo­ri­an Vetsch im On­line-Ar­ti­kel über Steff Si­gners Ur­auf­füh­rung des Wil­den Ritts in Win­ter­thur. 

 

Dass über ei­nen Schutz erst mit ei­nem ge­wis­sen zeit­li­chen Ab­stand ei­ni­ger­mas­sen ob­jek­tiv dis­ku­tiert wer­den kann, liegt auf der Hand. Erst mit der Zeit schärft sich der Blick und wir ver­ste­hen bes­ser, was das Be­son­de­re ei­ner Stil­epo­che ist. Der Be­ton­bru­ta­lis­mus als Bei­spiel kann heu­te «bru­tal schön» sein, wie es auf ei­nem der Pla­ka­te in der Aus­stel­lung heisst. Und die Post­mo­der­ne mit ih­ren Krei­sen und Drei­ecken hat Ge­stal­tungs­ele­men­te her­vor­ge­bracht, die wir heu­te viel­leicht wit­zig fin­den. 

Re­né Hor­nung über die nächs­te Bau­denk­mal-Ge­ne­ra­ti­on.

 

Wich­tig war, dass von an An­fang an al­le Be­tei­lig­ten an ei­ne über­ge­ord­ne­te Idee glaub­ten: dar­an, dass sich durch qua­li­ta­ti­ve und quan­ti­ta­ti­ve Kul­tur­in­for­ma­ti­on die Si­tua­ti­on der Kul­tur­schaf­fen­den ver­bes­sern und die Kul­tur selbst ent­wi­ckeln kann. Das hat uns in­spi­riert. Heu­te den­ke ich: Wenn es von An­fang an kom­mer­zi­ell funk­tio­niert hät­te, hät­ten wir nie ei­ne so brei­te Un­ter­stüt­zung er­fah­ren. Vie­le spür­ten: Da sind Leu­te am Werk, die ma­chen das aus Lei­den­schaft und Idea­lis­mus. 

Ro­man Rik­lin er­in­nert sich zu­sam­men mit Bru­der Adri­an im April­heft zum 30-Jahr-Ju­bi­lä­um von Sai­ten an die Sai­ten-An­fän­ge. 

 

So viel zum Kli­schee «Deutsch­land war nie ei­ne gros­se Ko­lo­ni­al­macht»: Das Haus Habs­burg kon­trol­lier­te durch sei­ne Herr­schaft über die ibe­ri­schen Kö­nig­rei­che und de­ren Über­see­ge­bie­te bis weit ins 17. Jahr­hun­dert ein ei­gent­li­ches trans­at­lan­ti­sches Welt­reich. Man könn­te auch sa­gen: Das Deut­sche Reich war ver­mut­lich nie mehr so nah an der Welt­herr­schaft wie in die­ser Zeit.

Ro­man Hertler über St.Gal­lens früh­ko­lo­nia­le Ver­flech­tun­gen.

 

Un­an­stän­dig, un­christ­lich und auch et­was an­rü­chig: Das wa­ren die quee­ren Iko­nen des 20. Jahr­hun­derts – und wur­den des­we­gen ge­fei­ert. Sie leb­ten ein Le­ben ab­seits von kon­ser­va­ti­ven Mo­ral­vor­stel­lun­gen und wa­ren da­mit Vor­bild für al­le, die nicht in ei­nem fa­mi­liä­ren Re­pro­duk­ti­ons­ap­pa­rat lan­den wol­len. Di­ven wie Mar­le­ne Diet­rich oder Ju­dy Gar­land wur­den von der quee­ren Com­mu­ni­ty un­sterb­lich ge­macht.

An­di Gi­ger in der Be­spre­chung des Stücks Game Over Play Fo­re­ver von Se­bas­ti­an Ry­ser und Lars Wol­fer. 

 

«Ich er­war­te, dass die Mass­nah­men, die auf die­se Rü­ge fol­gen müs­sen, auch von bür­ger­li­chen Par­tei­en mit­ge­tra­gen wer­den. Denn es soll beim all­ge­mei­nen Kon­sens blei­ben: Wir wol­len die Men­schen­rech­te ein­hal­ten.»

Kli­ma­se­nio­rin Pia Hol­len­stein im In­ter­view zum Ur­teil des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te, wo­nach die Schweiz auf­grund nicht ein­ge­hal­te­ner und zu tief an­ge­setz­ter kli­ma­po­li­ti­scher Zie­le di­ver­se Men­schen­rech­te ver­let­ze.

 

Die Stras­se führt an ei­nem gros­sen Park­platz vor­bei – Yach­ten, Schnell­boo­te. Es wird ge­häm­mert und la­ckiert, Fit­ma­chen für die Som­mer­sai­son. Nicht die Boo­te, die man zwin­gend mit Lam­pe­du­sa in Ver­bin­dung bringt, den­ke ich.

Mar­gue­ri­te Mey­er in der April-Fla­schen­post aus Lam­pe­du­sa.

 

Mit al­len re­den – der Rück­griff auf die­se omi­nö­se «Mei­nungs­frei­heit», wie ihn auch Re­gez, Sell­ner und an­de­re pfle­gen, ge­hört zum Ein­mal­eins der rechts­po­pu­lis­ti­schen Dis­kurs­stra­te­gien. Sie fun­giert letzt­lich als Deck­man­tel für ras­sis­ti­sche, se­xis­ti­sche und fa­schis­ti­sche Äus­se­run­gen.

Co­rin­ne Rie­de­ner im On­line-Bei­trag über die Ver­bin­dun­gen ei­nes mitt­ler­wei­le aus­ge­schlos­se­nen Ost­schwei­zer Jung-SVPlers zu rechts­extre­men Grup­pie­run­gen. 

 

Auf der Fahrt mit ei­nem ro­ten Re­nault 4 ge­hör­te der Bahn­hof Thu­sis je­des­mal als Hal­te­stel­le fix da­zu. Dort be­kam ich ei­ne Ra­ke­ten­glace für 60 Rap­pen und für Na­ne gab es ein gut be­leuch­te­tes WC. Dann ging es wei­ter auf der Au­to­bahn, Na­ne mit zwei Kis­sen un­ter ih­rem Hin­tern und mit Steck­na­del­pu­pil­len, ich mit der Ra­ke­ten­glace auf der Rück­bank, da­zu die Ste­reo­an­la­ge auf vol­ler Laut­stär­ke.

Sohn Jan er­in­nert sich in Wol­fi Stei­gers Nach­ruf auf Na­ne Ge­el an die Fahr­ten mit sei­ner Mut­ter ins Tes­sin.

 

Ein rie­si­ger Wer­muts­trop­fen ist je­doch, dass die Schweiz das Zu­satz­pro­to­koll nicht ra­ti­fi­ziert hat. (…) Sie hat Angst da­vor, an­ge­klagt zu wer­den. Das fin­de ich pein­lich für ein Land, das in sei­ner Selbst­wahr­neh­mung fort­schritt­lich ist.

Be­hin­der­ten­rechts­ak­ti­vis­tin Si­na Eg­gi­mann über die man­geln­de Um­set­zung der von der Schweiz vor zehn Jah­ren mit­un­ter­zeich­ne­ten UN-Be­hin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on.

 

Es wä­re viel zu scha­de, die Stras­sen al­lein un­ter dem Ge­sichts­punkt der Mo­bi­li­tät zu be­trach­ten. Zu gross sind die Flä­chen, die sie in in­ner­städ­ti­schen Ge­bie­ten ein­neh­men. Zu stark ist ih­re Prä­ge­kraft für die Ge­stalt un­se­rer Städ­te.

Ni­klaus Reich­le in sei­nem Plä­doy­er im Ju­ni­heft für ei­ne viel­fäl­ti­ge Nut­zung des in­ner­städ­ti­schen Stras­sen­raums

 

Wenn (Wirt­schafts-)Jour­na­lis­mus sich auf Ver­laut­ba­run­gen be­schränkt, wird er ent­behr­lich. Für das Um­schrei­ben von Me­di­en­mit­tei­lun­gen braucht es kei­ne Re­dak­to­ren. Kri­ti­sches Nach­fra­gen ge­hört zum jour­na­lis­ti­schen Hand­werk. Nicht nur beim The­ma Stad­ler.

Mar­kus Roh­ner übt Kri­tik an der Be­richt­erstat­tung des «St.Gal­ler Tag­blatts» über Stad­ler Rail.

 

Doch das K-Wort mag er für sich nicht. Das­sel­be gilt für Ver­glei­che mit Frank Zap­pa. Trotz­dem war er jah­re­lang be­kannt als «Zap­pa der Ost­schweiz». Ja, was wä­ren Künst­ler oh­ne je­ne, die über sie schrei­ben …

Co­rin­ne Rie­de­ner in ih­rer Be­spre­chung des neu­en Buchs über (In­f­ra-)Steff Si­gner im Ju­ni­heft.