, 28. Dezember 2023
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Gute Sätze 2023 – Teil 1

Das turbulente Jahr ist bald um und auch 2023 waren bei Saiten wieder denk- und diskussionswürdige Sätze zu lesen. Hier unsere höchst subjektive Auswahl aus Print und online von Januar bis Juni.

Guets Neus wünscht das Saiten-Kollektiv: Corinne Riedener, Philip Stuber, Marc Jenny (oben), Roman Hertler, Isabella Zotti und David Gadze (unten). Nicht im Bild: Calendrier Michael Felix Grieder. (Fotos: Ladina Bischof)

Januar

Ah Januar! Zeit für mich, um Jahresrückschau zu halten. Was lief gut? Was schlecht? Und was kann ich in Zukunft besser machen? Viele machen dies Ende Dezember. Ich bevorzuge den Januar, denn ich bin faul und im Januar muss man auf viel weniger Jahr zurückblicken.

Jan Rutishauser in der Warum?-Kolumne

 

Der Direktor erfüllte die Aufgaben anscheinend mit stoischer Ruhe, unbeeindruckt vom Ruf nach meh Dräck, sprich nach mehr – auch für das gemeine Fussvolk verständlichem – kunstspezifischem Aufbegehren gegen die jammervollen Weltzustände. Stets aufgeräumt wie die Räume, die er leitete, ohne jegliche Aufregung, ohne Skandale, Provokationen, unbestechlich; mit Pflichtgefühl, Diskretion und Disziplin, klug agierend zwischen den verschiedenen Interessenvertretenden – ohne Risiko, aber mit feinem Gespür für Ästhetik und Strömungen in der zeitgenössischen Kunst. Die «Kunstblase» von innen und aussen betrachtend, aber ohne hineinzustechen. Die Werbevideos zu neuen Ausstellungen hatten teilweise den Charme eines Daunen-Waschsalon-Besitzers.

Brigitte Schmid-Gugler im Beitrag Wäspes Abgang aus dem Januarheft.

 

Es geht hier nicht um das Unwohlsein einer Person bei der Betrachtung einer Mumie, wofür ich vollstes Verständnis hätte. Es geht darum, dass sich mit Milo Rau eine sehr fachfremde Person einfach der gängigen Stich- und Reizworte bedient und alles zusammenramisiert, was er gerade findet, um damit eine Kulturinstitution in anschuldigender Art und Weise anzufahren. Das ist Identitätspolitik und undemokratisch obendrauf.

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Was machen die Kurd:innen im Nahen Osten, während all dies geschieht – die Kurd:innen, die zu Dämonen erklärt wurden und deren Abschlachtung als «halal» gilt? Nichts für die kurdische Einigkeit! Manche arbeiten für ihre Ideologie, manche für ihren Thron, manche für ihren Scheich. So gibt es interne Konflikte, die viel zu viele Ressourcen binden.

Ronî Riha in Wo steht Kurdistan?

 

Wahlen gewinnt man in der Türkei seit jeher – wenn nicht durch Manipulation – mit den Themen Nationalismus, Islamismus und Kurdenfeindlichkeit.

 

Februar

Manche ignorieren einfach, dass eine Stadt nicht attraktiver wird, wenn mehr Autos in ihr fahren. Zudem werben die Befürworter:innen des Strassenausbaus gerne mit dem Argument, die Stadt bekomme den neuen Anschluss praktisch gratis, weil Bund und Kanton fast alle Kosten übernehmen. Als ob etwas Schlechtes nur dadurch besser wird, dass es nichts kostet.

David Gadze im Editorial zum Februarheft über die Stautobahn

 

In der Schweiz wünscht man sich zum Beginn des neuen Jahres «einen guten Rutsch». Als ich das zum ersten Mal hörte, fragte ich mich, warum jemand will, dass ich rutsche? Nach der Erklärung verstand ich, dass es eine Redensart ist und niemand will, dass ich hinfalle.

Sangmo in der Stimmrecht-Kolumne

 

Wird in naher Zukunft eine KI ein Album mit Gölä-Songs schreiben? Leider. Aber deswegen heisst es eben auch künstliche Intelligenz. Und nicht richtige Intelligenz. Ansonsten hätte sie da die Arbeit verweigert. Aber absichtlich dumm dastehen? Die Gefahr einzugehen, sich vor anderen Menschen lächerlich zu machen? Das kann kein Programm. Dumm dastehen können nur Menschen. Und das macht mich unersetzlich.

Jan Rutishauser in der Warum?-Kolumne

 

Irritierend fand ich die Reaktion von Stiftsbibliothekar Cornel Dora. Er hat mich die ganze Zeit ignoriert. Selbst an der Podiumsdiskussion in der Lokremise hat er nur mit dem Publikum gesprochen und mich nie direkt angeredet – als ob ich nicht existierte. (…) Mit seinem Mansplaining und seiner Aussage in aller Öffentlichkeit, dass ich offenbar die ägyptische Geschichte nicht verstünde und er mir erklären müsse, wie ich meinen Job machen solle. Ägyptische Frauen glauben oft, dass nur orientalische Männer so ticken, aber offensichtlich haben wir uns getäuscht. Ich fühlte mich, wenn ich so sagen darf, «schepenesisiert». Mir wurde gesagt, was ich tun solle, und gleichzeitig wurde ich ignoriert.

Monica Hanna in «Wir wollen sie zurück!»

 

Das ehemalige Pumpenhaus wirkt von aussen wie eine Märchenkulisse. (…) Es ist so schön hier, dass man sich nicht wundern würde, wenn Dornröschen aus dem verwunschenen Turm, der das Gebäude an der Frontseite ziert, stiege. Doch im Inneren des Hauses ist nichts mit Dornröschenschlaf. Hier brodelt es. Auch wenn noch kein Spielbetrieb herrscht und die Bar mit der goldenen Wand leer, die Bühne mit der steilen Zuschauertribüne unbespielt und die Scheinwerfer ausgeschalten sind, schwingt aus jedem Winkel eine Energie, die knallt.

Veronika Fischer in Steckborn: on fire

 

März

Das Lustigste an Leuten, die über queer-feministische Bestreben mötzeln, ist, wenn sie aus Versehen etwas sagen, was genausogut von einer queer-feministischen Person hätte kommen können. (…) Den Satz «ich habe keine Pronomen» höre ich einerseits oft von nonbinären Menschen. Andererseits auch von Walters und Rolands: «Ich habe keine Pronomen!» Okay Ueli, ab jetzt verwende ich nur noch deinen Namen statt Pronomen.

Anna Rosenwasser in der Nebenbei gay-Kolumne im Märzheft

 

Wir wollen einen demokratischen Paradigmenwechsel. Das Bürgerrecht darf kein Privileg mehr sein, es ist ein Grundrecht, für alle Menschen, die in der Schweiz ihren Lebensmittelpunkt haben. International rühmen wir uns immer mit unserer angeblich «besten Demokratie der Welt», aber faktisch gesehen haben wir demokratiepolitisch ein grosses Defizit. 26 Prozent aller Menschen, die in der Schweiz leben, also rund ein Viertel, sind ausgeschlossen. Man erwartet von ihnen, dass sie ruhig sind, ihre Pflicht tun und sich quasi als Menschen zweiter Klasse unterordnen. Das wollen wir ändern.

 

Es wird viel gestritten in Rapperswil-Jona, auch schwingt immer ein gewisses Misstrauen gegenüber der Gegenseite mit. Der Stadtrat misstraut der Bürgerversammlung, die Bürgerversammlung misstraut den Parteien, die Parteien misstrauen den einflussreichen Parteilosen. Vorbehaltlos zustimmen würden aber alle, mit denen Saiten gesprochen hat, dass Rapperswil-Jona ein hübsches Städtlein ist, mit idyllischer Lage direkt am See, mit einer hohen Lebensqualität, einem tiefen Steuerfuss, der weit unter dem kantonalen Durchschnitt liegt, mit einer brummenden Wirtschaft – und dem einen oder anderen Superreichen, die sich aus all diesen Gründen gerne hier am Obersee niederlassen und die Steuerkasse klingeln lassen.

 

Letztlich hat sich damit die Debatte um das Wiesli auf die Frage verengt, ob die Besitzstandswahrung legitim sei oder nicht. Dabei geht so vieles vergessen, was das Wiesli eigentlich ausmacht.

Niklaus Reichle im Beitrag Lernen vom Wiesli

 

Abgehängt. Alleingelassen. Von der Politik geringgeschätzt. Im luftleeren Raum schwebend. So fühlt sich die freie Szene in St.Gallen, insbesondere fühlen sich so die darstellenden Künste Theater, Tanz und Performance. Seit Jahren verhallt ihr Ruf nach einem eigenen «Haus für die Freien», in dem sie ihre Stücke aufführen, aber auch einstudieren und proben, sich vernetzen und inspirieren können. Dieser Ruf verhallt nicht ungehört, die Stadt hat sich ein «Haus für die Freien» sogar ins «Kulturkonzept 2020» geschrieben. Doch passiert ist nichts. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es mangelt an passender freier Infrastruktur, und wenn man sie mal findet, wie im Beispiel des Kulturraums Pool in der Lachen, tauchen andere Hürden auf, betrieblicher oder behördlicher Art. Dieses Auf-der-Stelle-Treten liegt teilweise aber auch an der freien Szene selbst. Sie ist zu wenig organisiert, zu wenig geeint, vielleicht auch zu wenig aktiv.

David Gadze über die Freie Szene im Märzheft

 

April

Es geht jetzt um das territoriale Rückerobern der Natur, wo wir in den vergangenen 40 Jahren viel verloren haben. Das gilt auch für die Strassen. Wir müssen jeden Meter zurückerobern, auch wenn das vielleicht bedeutet, dass man zugunsten einer Baumallee auf die Eigentrassierung einer Busspur verzichten muss. Es ist ein Kampf um jeden Quadratmeter.

 

Klimapolitik wird in den Medien leider meist als progressives, linkes Thema dargestellt. Da muss ich aber klar sagen: Naturwissenschaften haben keine Parteifarbe. Diese Veränderungen sind erstmal ein Befund.

 

Der Moment, in dem man sich irgendwie zuhause fühlt, ist der, in dem man sich so richtig über alltägliche Kleinigkeiten nervt.

Marguerite Meyer in ihrer Flaschenpost aus Tirana

 

Damit ist auch der Verwaltungsrat zumindest verbal dort angekommen, wo das Theater auf der Bühne bereits seit längerem und mit Erfolg unterwegs ist: im Zeitalter der Diversität, Beispiele hier oder hier. Allerdings repräsentiert der heutige, 19-köpfige Verwaltungsrat in seiner Zusammensetzung dieses Ideal noch bei weitem nicht.

Peter Surber im Beitrag Theater-Präsidium: Bewerbt euch!

 

Mai

Diese Millimeterarbeit im Parlament kam mir immer doof und langweilig vor. Wahrscheinlich hoffte ich immer auf eine Revolution. Und diese Revolution sollte eher von der Strasse ausgehen als vom Parlament.

Alexa Lindner Margadant im Interview mit Matthias Fässler aus dem Maiheft

 

Doch lassen wir es vorerst dabei bewenden, dass «Kultur St.Gallen Plus» wirklich ein Plus für die Kultur in und um St.Gallen sein kann. Auch deshalb, weil im Vorstand drei professionelle Kulturschaffende sitzen, die, gemeinsam mit der Kulturkommission, im Sinne der Kultur entscheiden werden und das aufgrund ihres Fachwissens auch können. Und vielleicht ist es auch eine Chance, dass sich Gemeindepräsidenten wie SVP-Mann Toni Thoma, der den Vereinsvorsitz hat und dessen Partei eher die Totengräberin der Kultur ist als deren Förderin, vertieft mit solchen Themen auseinandersetzen wollen. Die Beschäftigung mit Kultur hat noch niemandem geschadet.

 

Der Verleger und Schnapsbrenner Christoph Keller hat mal beschrieben, was einen guten Schnaps ausmacht: Er solle nicht nach der reinen Frucht schmecken, da verzehre man diese besser einfach. Stattdessen enthalte ein guter Schnaps alle Zustände einer Frucht, von der Knospe über die Blüte zur unreifen, reifen bis zur vergorenen, verdorbenen Frucht … So ein Saft kann und soll also alles beinhalten und ein Wesen in allen Aspekten abbilden. Daher empfinde ich das Schwimmen im eigenen Saft also nicht zwingend als negativ. Ein Festival darf durchaus ein Stammpublikum haben. Das ermöglicht auch ein Vertiefen, eine Vertrautheit, eine Heimat des Denkens.

 

Zu hoffen ist, dass die finanziellen Wünsche der Hauptstadt im Kanton eine politische Debatte auslösen werden. Ein wichtiger Faktor fürs Schlussresultat dürfte dabei sein, wie sich die Lobby der Gemeindepräsident:innen positioniert. Zentral wird aber auch sein, ob sich genügend Meinungsführer:innen in den bürgerlichen Kantonsratsfraktionen vom Hilferuf und den Argumenten aus der Stadt überzeugen lassen.

Reto Voneschen im Beitrag St.Galler Stadtkasse in Nöten

 

Juni

Keiner kommunizierte so klar, so simpel, so treffsicher, so komplex, so unterschwellig, so subversiv und latent politisch. H.R. Fricker ist sein Künstlerleben, sein Leben lang ein Kommunikationsspezialist gewesen in allen möglichen Bereichen, Standortmarketing, Vermittlung, Teilhabe, Animation eingeschlossen. Noch lange ist nicht alles aufgezählt, was H.R. Fricker als Künstler angerichtet hat.

Ursula Badrutt im Nachruf zu H.R. Fricker aus dem Juniheft

 

Ich frage mich, warum bei «Eat the Rich» Leute wie Rihanna nicht mitgemeint sind. Ja, ok, immerhin geben sie uns im Gegensatz zu Arschlöchern wie Jeff Bezos oder Elon Musk tatsächlich etwas, das unser Leben bereichert, nämlich Kunst und Unterhaltung. Und trotzdem: Wir reden davon, die Superreichen zu besteuern, zu enteignen oder was auch immer, aber wenn es Riri ist, die einen fucking neunkarätigen ZEHENring trägt, dann finden wir das okay und cool?

Jessica Jurassica in ihrer Flaschenpost aus New York

 

Die Chance, in einer kleinen Stadt Theater zu machen, ob St.Gallen oder Erlangen, liegt darin, dass man es konzentrierter und mit mehr Ruhe tun kann und weniger stark der Schlangengrube ausgesetzt ist als in der Metropole. Dort muss alles ständig schneller, höher, bunter, skandalöser, performativer werden.

 

Jack Stoiker und Knöppel haben also auch falsches Publikum; Exemplare jener prekären Männlichkeit, die mit viel Bier vergessen, wieviel Care Arbeit sie ihrer Sexualität schuldig geblieben sind und die dieses Manko die anderen spüren lassen. Ich traue uns meist privilegierten Mitgliedern der linken Kulturklasse aber zu, solchen Leuten souverän oder auch unsouverän die Türe zu zeigen.

Rolf Bossart im Beitrag Wer darf wo spielen?

 

Teil 2 folgt!

 

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