Gut ist nicht mehr gut genug

Lässt sich der Mensch verbessern? Und die Kunst? Mit Videoinstallationen und luftreinigender Raumbegrünung macht der junge St.Galler Raphael Reichert im St.Galler Lagerhaus Selbstoptimierung zum Thema - samt Selbstversuch. Von Sandra Cubranovic
Von  Gastbeitrag

«Die Monstera deliciosa ist ein einnehmendes Wesen von starkem Wachstum.» So oder ähnlich klingen Beschreibungen der Pflanzengattung aus der Familie der Aronstabgewächse, die sich in unzähligen Shops im Internet finden. Dieses Gewächs scheint einfach allem gerecht zu werden. Seit geraumer Zeit hat es sich zu einer «Trenderscheinung» in der botanischen Welt und der Gesellschaft überhaupt entwickelt – nicht selten findet es sich tätowiert auf jungen oder junggebliebenen Gliedmassen oder als Print auf Kleidungsstücken. Worin besteht aber der Bezug zur Kunst?

Die «Monstera deliciosa» dient Raphael Reichert in seiner Einzelausstellung «Opt-in» als symbolisches Sinnbild seiner Arbeitsthematik. Mit ihren fleischig-grünen Blättern ist sie das botanisch perfektionierte Pendant zu menschlichen Erscheinungsformen in den sozialen Medien. Es ist eine Anspielung auf die künstlichen Figuren, die immer reicher, schöner und intelligenter werden.

Botanisch-humane Perfektion

Der St. Galler Raphael Reichert (*1993) studierte nach seinem Bachelorabschluss in Bildender Kunst an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel Postindustrielles Design und Prozessgestaltung. 2020 erhielt er einen Werkbeitrag der Stadt – das Ergebnis ist jetzt in seiner ersten grossen Einzelausstellung im Architekturforum  zu sehen.

Reichert wirft Fragen zum gesellschaftlichen Leben auf. Wieviel Wahrheit steckt im Imperativ «Optimiere Dich»? Helfen grössere Muskeln und ausgefallene Tätowierungen dabei, schöner, erfolgreicher und beliebter zu werden? Reicherts Ansprüche gehen aber darüber hinaus: Lässt sich dieses Konzept auf Kunst übertragen? Wirkt sich das Streben nach dem vermeintlich besten Ich auch positiv auf das eigene Kunstschaffen aus?

Der Selbstversuch

Für die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten hat Raphael Reichert sich bewusst auf den Weg der Selbstoptimierung begeben. Für «⌀15:09» (2021), eine Videoarbeit, die sich mit sechzehn Videos auf Grossleinwand präsentiert, filmte er täglich seine immergleichen Joggingrunden durch Basel mit seinem Smartphone.

Mit der steten Wiederholung trat eine Verbesserung seiner Leistung auf: Von anfänglichen 17 Minuten brauchte er für die letzten Runden nur noch 13. Für das Screening hat er alle Videos auf eine Timeline von 15:09 Minuten – den Durchschnittswert aller Läufe – geschnitten, sodass einige Videos schneller, andere langsamer abgespielt werden.

Der Blick unter die Oberfläche

Mit «Otopexie» zeigt Reichert eine extremere Art der Aufwertung: den chirurgischen Eingriff. Die fiktive Kurzdokumentation, die Reichert in Zusammenarbeit mit Leah Studinger erarbeitet hat, zeigt die einzelnen Schritte einer Ohrenkorrektur. Der Prozess des ambulant durchgeführten Eingriffs hinterlässt beim Betrachtenden ein leicht beklemmendes Gefühl, weckt aber zeitgleich eine wuchernde Abwehrhaltung, getrieben von den Fragen nach dem Warum.

Raphael Reichert: «Opt-in», bis 3. Juli, Di-So 14-17 Uhr,
Städtische Ausstellung im Architekur Forum Ostschweiz,
Lagerhaus St.Gallen

raphaelreichert.com/

Die sterile, klar strukturierte Videoästhetik und das nüchterne Vorführen der medizinischen Schritte gräbt ein immer stärker wucherndes Bewusstsein über die enorme Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen und deren negativen Auswirkungen aus.

Exakt diese Wechselwirkung der hauptsächlich mit Bildschirmen ausgestatteten, cleanen Ausstellungsszenografie, den minimalistisch wirkenden Exponaten und der Thementiefe ist bemerkenswert. Raphael Reichert bietet keine endgültigen Antworten oder Lösungen mit seiner Kunst, er liefert Denkanstösse. Die Stossrichtung, die er mit den Arbeiten vorgibt, trifft den Punkt.