Guhls synästhetische Katze
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Es lohnt sich, Andy Guhls prämiertes Buch Ear Lights, Eye Sounds. Expanded Cracked Everyday Electronics zu studieren. Die 2014 bei Edizione Periferia erschienene Monographie ist zugleich Fundgrube, Schatzkiste und Vermächtnis.
Wenn man den schön gestalteten, von Tabea Guhl mitillustrierten Band in den Händen hält, springt einem eine ungebundene Kreativität entgegen.
Jedoch lässt sich eine Chronik über gut 50 Jahre mit vielen Fotografien, Gesprächen, Berichten und Erklärungen nicht auf 250 Seiten festhalten. Tatsächlich vermag das Buch weniger Guhls Lebensleistung wiederzugeben als einen Geschmack der treibenden Kräfte, Wirkungen und Anziehungen eines Musikers, der zugleich Architekt, Grafiker, Videokünstler, Hacker und Verstärker ist.
Naturgemäss platzt das Buch aus den Nähten. Man wühlt darin wie auf Guhls Ateliertisch, wo sich Mischpulte, Transistoren, Velolämpchen, Kabel, Tonbandspulen, Pfannendeckel und Musikinstrumente türmen – blankes Chaos, das, gewusst wie, zum kreativen Humus wird. Man wühlt und nimmt einen Sound, ein Bild, eine Wolke heraus.
Freak, Kind und Kätzchen
Einzige Konstanz in Guhls Entwicklung ist das hartnäckige Festhalten an der Veränderung, an der Dekonstruktion und am Lebendigen. Wie ein Chirurg über dem offenen Herzen zerlegt der in Gossau geborene Bub Grossmutters Uhr und bestaunt die Mechanik des aufgeklappten Hausklaviers. Prägend sind die Projekte mit Norbert Möslang, die zwei Drittel des Buchs ausmachen. In ihnen zeichnet sich bereits in den 70er Jahren eine stilistisch ungebundene, innovative Improvisationskunst mit offener Form und körniger Lautstärke ab, eine «musica povera» mit langen Klangreisen irgendwo zwischen Freejazz, Rock und Stockhausen. Musik, die nicht zwischen Klängen und Geräuschen, Konzepten und Prozessen wertet, sie ist Jetztzeit mit und ohne Pulsation – Musik, die sich jeder Erwartung verweigert.
Die Fotos aus dieser Zeit quietschen, dröhnen und säuseln, sie können einem die Nostalgie hochtreiben: die Zeit der Flora und Fauna im Haar, der subversiven Dudelsäcke und Gartenschlauch-Aerophone, der Pfannendeckel und blubbernden Kochtöpfe, der grunzenden und himmelhochjauchzenden Bassklarinetten. Die Sessions am Mühlensteg, am Openair St. Gallen, in der Roten Fabrik, am Jazzfestival in Willisau, oder die Performances in Berlin, Wien oder an der Biennale in Venedig spiegeln die Utopie der Zeit und versuchen die – wenn auch in der Schweiz etwas verspätete – Revolte.
Mir kommt das Bild eines Kinds, das mit dem Kätzchen spielt, das den Wollknäuel aufwirft, in allen Richtungen, in der Logik des Zufalls: statt der Tinguely-haften Mechanisierung der Alltagsgegenstände deren Elektrifizierung und verstärkte Innenwahrnehmung. Mit der Cage’schen Hinwendung zum objet trouvé, zum ready made bewegt sich Guhl vielleicht etwas weg vom Politischen hin zu einer Subjektivität, deren logische Folge Synästhesie ist.
Verborgene Resonanzen
Dass man Töne sehen, tasten, riechen, dass man Farben hören kann, ist vielleicht eine neurologische Anomalie, die sich als Gabe manifestiert. Seit Skrjabins zarten Klavierstücken ist Synästhesie salonfähig. Guhls Interface von Farbklängen wirkt weniger narkotisierend, denn es geht ihm weniger um kompositorische Konstrukte als um die Interaktion medialer Ebenen, deren dysfunktionale Gegenständlichkeit einen (fast wie bei den surrealistischen Gemälden von Yves Tanguy) über die Auswüchse der Natur staunen lässt. Mit Projektoren, Handkameras, Velolämpchen, Transistoren und «falschen» Verkabelungen werden Tonwellen an Lichtwellen gebrochen. Magnetische Felder und Kupferdraht machen verborgene Resonanzen hörbar, die sich wie von selbst erzeugen, oder verwandeln sie in elektronische Gemälde, die wie Kontrapunkte durch die Buchseiten schwingen.
Tatsächlich wirkt der Künstler dort am fröhlichsten, wo er die Natur machen lässt und die Tür für unbegrenzte Fantasie öffnet. In der Installation My first sonic Lok inspiriert das elektromagnetische Oszillieren eines durch den Albula brausenden 65-Tönners zu faszinierenden auratischen Bildern.
Andy Guhls Kunst ist in den letzten Jahren visueller geworden. Sie lässt sich – jenseits des Anspruchs auf Erhabenheit – auf eine buddhistische Empfindung von Leere ein, auf die Wahrnehmung des kreativen Prozesses selbst, wie ein Arielscher Geist, der nun gleichzeitigt Subjektivität ermöglicht und verschwinden lässt.
Andy Guhl: Ear Lights, Eye Sounds. Expanded Cracked Everyday Electronics, Edizioni Periferia, 2014, Fr. 58.-. Weitere Infos hier.
Vernissage im Rahmen der Ausstellung Schönste Bücher der Schweiz: Montag 14. September 19 Uhr, Schule für Gestaltung St. Gallen, Demutstrasse 115.
Das Typo-Symposium findet vom 18. bis 20. September statt. Infos hier.