Grosse Klappe

Das St.Galler Figurentheater spielt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Hauptfigur dieser Programme ist Gertrud. Diese Woche trifft Puppenspiel auf Poetry Slam. von Sebastian Ryser
Von  Gastbeitrag

Frau Jacobi und Frau Müller sind ein eingespieltes Team. Sie arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Manchmal hat man den Eindruck, die beiden sind über die Jahre sogar Freundinnen geworden. Nach Feierabend jedoch stopft Frau Jacobi ihre Kollegin in eine Plastiktüte und schmeisst sie in die Ecke. Eine ganz normale Arbeitsbeziehung! Frauke Jacobi ist nämlich Puppenspielerin und Gertrud Müller eine lebensgrosse Klappmaulfigur aus Stoff (mit charmanter Ähnlichkeit zu ihrer Spielerin).

Seit zwei Jahren ist Jacobi künstlerische Leiterin des Figurentheaters St. Gallen und zeigt hier – nebst einem vielfältigen Kinder- und Erwachsenenprogramm –  regelmässig Shows mit Gertrud. Zusammen mit ihrem kettenrauchenden Co-Moderator Horst Hablützel (ebenfalls aus der Gattung Klappmaul, wunderbar gespielt von Lukas Bollhalder) lädt sie verschiedene Gäste ein: manchmal aus Fleisch, manchmal aus Pappe. Gertrud wird kriminell, Gertrud goes Hollywood oder Gertrud will feiern heissen solche Abende.

Keine ohne die andere

Im Dezember hat Frauke Jacobi unter der Regie von Eveline Ratering ihr erstes Soloprogramm mit Gertrud vorgelegt. Und sein Titel lässt schon erahnen, wer an diesem Abend die Führung übernimmt: Gertrud tritt auf und Frau Jacobi muss mit heisst das Stück. Die angedeutete Umkehrung von Puppenspielerin und Puppe offenbart die witzige und – auf den zweiten Blick – philosophisch abgründige Beziehung zwischen Frau und Objekt, die an diesem Theaterabend für grosse Unterhaltung sorgt.

Gertrud ist davon überzeugt, dass dies ihr Soloabend ist. Dummerweise lässt sich die Puppenspielerin hinter ihr einfach nicht abschütteln. Frau Jacobi sitzt ihr buchstäblich im Nacken, da muss man sich also irgendwie arrangieren. Ihr Plan: Sich wacker in den Vordergrund drängen und die andere auf der Bühne nicht zu Wort kommen lassen. Gertrud singt, erzählt und flirtet deshalb sofort drauf los (letzteres mit dem Lichttechniker, Stephan Zbinden). Sie rezitiert einen «verarzteten Bergroman in Versen», schmettert eine feministische Hymne an die Frau und gerät in einen heftigen Streit mit einer sprechenden Aubergine.

Gertrud slamt!: 17./18. Februar, 20 Uhr

Mit Renato Kaiser, Lisa Brunner, Pink im Park, Miriam Schöb, Richi Küttel, Lukas Bollhalder, Frauke Jacobi und dem Theater-Ensemble. Live-Musik: Markus Holzmaier

Gertrud tritt auf und Frau Jacobi muss mit: 30./31. März, 20 Uhr

Figurentheater St.Gallen

Die einzelnen Kabarettnummern reihen sich nahtlos aneinander. Und Gertruds charmant-bissige Persönlichkeit treibt den Abend mit hohem Tempo voran. Das Publikum hat die Stoffpuppe jedenfalls sofort um den Finger gewickelt. Vor allem dann, wenn sie sich ihre Spielerin vorknöpft. Gertrud lässt ihre «hässliche, äh, verlässliche Begleitung» nicht in Ruhe: Sie neckt, piesackt und frotzelt immer wieder los. Und die Spielerin gibt schlagfertig zurück. Das ist hohe Puppenspielkunst! Denn solche Dialoge verlangen von der Spielerin, blitzschnell zwischen zwei gegensätzlichen Charakteren mit unterschiedlichen Stimmen, Stimmungen und Tempi hin- und herwechseln zu können. Jacobi meistert das mit hoher Präzision.

Helles Erstaunen

Schnell wird an diesem Abend klar, weshalb das Puppentheater zu den spannendsten Formen der Theaterwelt gehört. Wenn eine Figur plötzlich lebendig wird, hat das etwas unheimlich-bezauberndes. Die Theaterwissenschaftlerin Meike Wagner hat Puppen einmal als «Zwischenwesen» bezeichnet: In ihrer anthropomorphen Gestalt sind sie uns vertraut, als tote Objekte sind sie uns gleichzeitig radikal fremd.

Die Faszination des Puppentheaters liegt nun genau in jenem Kippmoment, in dem das leblose Material vor den Augen des Publikums zu einem denkenden und handelnden Subjekt wird. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind dabei Komplizen dieser Verwandlung: Denn nur durch deren Phantasie wird das Objekt zu einer eigenständigen Bühnenfigur. Ein Vorgang, der Erwachsene genauso wie Kinder in helles Erstaunen versetzen kann.

Hochkomische Tragödie

Welche Möglichkeiten das Puppentheater dabei hat, wird im zweiten Teil des Abends klar. Gertrud hat nun nämlich endgültig genug von ihrer Animatorin und verkriecht sich trotzig unter den Spieltisch. Soll die Spielerin doch selber schauen, was sie ohne ihren Star macht. Und so muss das Puppentheater nun ohne Puppe weitergehen. Kein Problem: Frauke Jacobi spielt alleine weiter, und zwar Shakespeares Romeo und Julia – mit Objekten. Messer, Gabeln, Teekannen und Zuckerstreuer verwandeln sich in das Personal der Shakespeare’schen Tragödie. Was vielleicht erst mal seltsam klingt, zieht einen sofort in den Bann: Ein Löffel nimmt ein warmes Bad in einer Teetasse, Messer und Gabeln bekämpfen sich aufs Blut, eine Auflaufform wird zu einer Gruft, in der sich Küchenutensilien ihre Liebe versichern – alles völlig plausibel im spielerisch-magischen Dispositivs des Puppentheaters.

Jacobi spielt dabei geschickt mit den Eigenschaften, die die Objekte bereits in sich tragen: Die zarte, fragile Julia ist eine Kerze, der leidenschaftliche Romeo ein Feuerzeug und der versoffene Pater Lorenzo eine dickbäuchige Weinflasche. Die Objekte werden in ihrer Mehrdeutigkeit virtuos in Szene gesetzt. Selten hat man Shakespeare witziger gesehen. Und noch nie war es anrührender, wenn sich eine Kerze und ein Feuerzeug ewige Treue geschworen haben.

Gertrud on the Spot

Das Stück Gertrud tritt auf und Frau Jacobi muss mit wird im März noch einmal aufgenommen. Eine gute Gelegenheit, wieder einmal im Figurentheater St. Gallen vorbeizuschauen. Davor präsentiert Gertrud aber noch einen weiteren Event im Figurentheater St. Gallen: Der erste Puppetry Slam der Schweiz, an dem Poetryslamer und Puppenspieler, darunter Renato Kaiser und Richi Küttel, gemeinsam auf der Bühne stehen werden.

Gertrud leistet hier spartenübergreifende Verständigung in der Ostschweizer Kulturszene, wie sie in ihrer Ankündigung selber schreibt, denn: «Was haben Poetryslam und Puppentheater gemeinsam? Das P am Anfang, sonst nichts.» Bisher zumindest. Es wird also höchste Zeit, dass die charmante Puppe einen ersten Schritt zur gegenseitigen Annäherung unternimmt.