, 4. April 2018
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Grenzsprengend

Die Ausstellung «Sag Schibbolet!» im Jüdischen Museum Hohenems thematisiert politische, sprachliche, historische und unsichtbare Grenzen. von Kurt Bracharz

Bilder: Arno Gisinger

Da heute nicht mehr so viele Museumsbesucher bibelfest sind, muss man den Ausstellungstitel «Sag Schibbolet!» erklären. Im 12. Kapitel des alttestamentarischen Buches der Richter wird eine Flüchtlingsgeschichte erzählt: «Und Gilead besetzte die Furten des Jordan vor den Efraimiten. Und wenn ein Flüchtling von den Efraimiten sprach: Ich will hinüber!, sagten die Männer des Gilead zu ihm: Bist du Efraimit? Sagte er dann: Nein!, so sagten sie
 zu ihm: Sag Schibbolet! Sagte er dann Sibbolet, weil er es nicht so aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn nieder
 an den Furten des Jordan.»

Den nächsten Satz der Bibelstelle hat man im Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum in Hohenems weggelassen, vielleicht weil er doch weniger amüsant ist als die lakonische Schilderung des Tricks der Gileaditer mit dem für die Efraimiten unaussprechlichen Phonem sch: «So fielen zu jener Zeit von Efraim Zweiundvierzigtausend.»

Der Untertitel der am 18. März eröffneten Ausstellung lautet «Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen». Das lässt einen zunächst gedanklich ausschweifen, denn «Grenze» ist ein abstrakter struktureller Begriff, der auf allen Gebieten Anwendung finden kann. In der Geografie gibt es die Waldgrenze, in der Medizin die Blut-Hirn-Schranke, in der Biologie die Revierbildung, in der Psychologie das Körperschema, dessen Auflösung zur Borderline-Symptomatik führt, in der Mathematik den Grenzwert, und so weiter – die Aufzählung nähme kein Ende.

In der Hohenemser Ausstellung sind aber die politischen, also von Mächten gezogenen Grenzen gemeint, die einst oft mit geografischen (Beispiel: Rheingrenze) zusammenfielen, später dann von Kolonialmächten willkürlich gezogen wurden und heute offenbar seltsam flexibel geworden sind: Beispielsweise operiert zur Zeit der Ausstellungseröffnung die reguläre türkische Armee auf syrischem Staatsgebiet, zwar mit Genehmigung der ebenfalls gebietsfremden Russen, aber ganz sicher ohne jede völkerrechtliche Akzeptanz.

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Während selbst die damals schon ganz unverhüllt aggressiven Nazis noch 1939 ständige Grenzverletzungen durch die
Polen behaupteten und sogar einen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz inszenierten (Fake News vor 80 Jahren!), um einen Vorwand zum Einmarsch zu haben, kommen viele Aggressoren heute ganz ungeniert ohne solche Vorspiegelungen aus. Das andere aktuelle Phänomen an den politischen Grenzen ist die Rückkehr der urtümlichsten Methode der Abgrenzung, der Mauerbau.
Wer hätte 1989 beim Fall der Berliner Mauer gedacht, dass drei Jahrzehnte später 70 Staaten Mauern errichtet haben und
dass sich die USA allen Ernstes buchstäblich einmauern wollen?

Während im Begleitprogramm mit Vorträgen, Lesungen und Gesprächen verstärkt die unsichtbaren Grenzen thematisiert werden, zeigt die Ausstellung naturgemäss die einfach sichtbaren sowie die erst durch künstlerische Intervention sichtbar gemachten. Zu ersteren zählen die Arbeiten der in San Francisco lebenden Fiamma Montezemolo, Künstlerin mit Hohenemser Vorfahren, über den Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko mit Videos, aber auch einem Glaskolben mit Rost von Eisenteilen des Zauns.

Zu den Sichtbarmachern andererseits gehört Lawrence Abdu Hamdan, der in Conflicting Phonemes mittels Diagrammen und Karten über die Spracheinflüsse im Leben einzelner Flüchtlinge zeigt, wie man in den Niederlanden aus dem Phonembestand der invididuellen Stimme auf die – vielleicht verleugnete – geografische Herkunft schliessen will, also die moderne, hochkomplizierte Version von «Shibbolet!» Die Karten zeigen, welche Sprachen im Umfeld der Person gesprochen wurden, wie die Eltern sprachen und ob es schon Einflüsse von anderen Asylbewerbern gegeben hat. Dass ein solches Verfahren nicht gerade zuverlässig ist, liegt
auf der Hand, aber zur Begründung einer Abschiebung scheint alles recht zu sein.

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Ein dritter aus dem beteiligten Dutzend von Künstlerinnen und Künstlern, Zach Blas, dringt mit der Facial Weaponizing Suite in jenen Bereich der Kunst vor, der auch in kommerziellen Galerien ausgestellt werden könnte. Er verfertigt Kunststoffmasken,
deren endgültige Form aus der Kombination biometrischer Daten bestimmter Gruppen beruht und der Theorie nach irgendwie «typisch» ausfallen müsste. Tatsächlich sind Blas’ Masken unentzifferbar und für Gesichtserkennungssysteme unlesbar.

Sag Schiblolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen:
 Ausstellung und Programm bis 17. Februar 2019, Jüdisches Museum Hohenems

Der von dem Berliner Künstler und Kurator Boaz Levin kuratierten und dem Ausstellungsgestalter Robert Koch eingerichteten Exposition liegt eine reale und bedeutsame Grenze so nahe, dass sie eine Schlüsselrolle spielen muss: Am Alten Rhein spielten
sich ab 1938 von Feldkirch bis zum Bodensee Flüchtlingsdramen ab bei den Versuchen, in die neutrale Schweiz zu fliehen. Der in Paris lebende Vorarlberger Fotokünstler Arno Gisinger hat in Schuss/ Gegenschuss insbesondere die Grenzsteine fotografiert.

Bei den historischen Aufnahmen findet man Bilder von dieser Grenze mit und ohne Grenzwächter, bezeichnenderweise aus dem Archiv der Finanzlandesdirektion. In der Ausstellung dienen zehn sprechende Grenzsteine als Informationsträger für das Publikum.

Im umfangreichen Beiprogramm zu «Sag Schibbolet!» finden in den nächsten Monaten allein fünf Veranstaltungen zu dieser Grenze während der Nazizeit statt. Die lange Dauer der Ausstellung gibt die Möglichkeit zu mehrmaligen Besuchen, was sich durchaus lohnt.

Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.

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