Gräber öffnen

In seinem dritten Roman «Carlas Scherben» holt Frédéric Zwicker einen Patriarchen vom Sockel.

Von  Eva Bachmann

«Der Tod macht Verstorbene im ersten Augenblick lebendiger.» Das ist so einer dieser Zwicker-Sätze, bei denen man kurz innehält und sich freut über die fadengrade Formulierung. Im Buch ist der Tod von Grossmutter Lili jener Moment, der die Toten weckt. Ihre Enkelin Carla beginnt, die alten Gräber zu öffnen, in die man mit den Verstorbenen auch ihre Geheimnisse versenkt zu haben glaubte.

Frédéric Zwickers Roman Carlas Scherben folgt an sich einem recht konventionellen Muster: Da ist ein Todesfall, alte Briefe kommen zum Vorschein, die eine Recherche in Gang setzen und zu einem ganz neuen Bild des Gewesenen führen. Doch Zwicker kann mehr. Das hat der Autor aus Rapperswil-Jona (*1983) mit seinen Büchern Hier können sie im Kreis gehen (2016) und Radost (2020), als Saiten-Redaktor und als Songwriter von Knuts Koffer und Hekto Super schon bewiesen. Carlas Scherben nun funkeln wie in einem Kaleidoskop, fügen sich zu immer neuen Bildern zusammen.

Frédéric Zwicker: Carlas Scherben. Zytglogge Verlag, Basel 2024.

Von der äusseren Form her ist der Roman ein langer Monolog, in dem Carla ihrem längst verstorbenen Grossvater Paul die Ereignisse im Jahr nach Lilis Tod erzählt. Paul war ihr Ersatz-, ja Übervater, den sie sehr mochte. Die Figur bekommt jedoch immer mehr Risse und stürzt schliesslich ganz vom Sockel. Zwicker kann den grossen Spannungsbogen bis zum Schluss halten, indem er der langsamen Demontage immer noch einen Dreh hinzufügt. Vielleicht weist er etwas zu oft darauf hin, dass noch mehr kommt – aber die Episoden aus den diversen anderen Strängen drängen sich dazwischen, auch sie drehen am Kaleidoskop.

Gekonnt ist, wie Zwicker mit seinem wichtigsten Motiv hantiert. Die Scherben nehmen einerseits Bezug auf das Bild der glücklichen Familie, das allmählich zerscherbelt. Andererseits bedeutet «der Scherben» auch eine gebrannte Keramik. Carla schafft als Töpferin sehr zerbrechliche Kunstwerke wie Bienen oder Mauerblümchen. Zum Zeitpunkt von Lilis Tod leidet sie gerade unter «kreativer Verstopfung», ihr fehlt eine Idee, um mit ihrer ersten Einzelausstellung in Hamburg den Durchbruch zu schaffen. Carlas Scherben ist also auch ein Künstlerinnenroman; von Musenküssen über inspirierende Gülledämpfe bis zu Thomas Bernhards saftigem «Kunstgegeifer» alles inklusive.

Als grosse Klammer über die Paul- und die Kunst-Geschichte legt Zwicker eine Geschichte der Migration, die 1943 beim Grenzschutz im Tessin beginnt, später kommen die Gastarbeiter und dann die Asylsuchenden. Wer muss zurück, wer kann bleiben? Die Töpferin Carla dreht die Idee weiter zu den Neophyten: «Zu den Problemarten spuckte das Internet reihenweise Informationen aus. Über die grosse, friedfertige Mehrheit der Fremdländer fand ich hingegen so gut wie nichts.» Noch so ein Zwicker-Satz, einer von der doppelbödigen Sorte.

Dieser Roman hat viele Schichten, und eine weitere soll noch erwähnt werden: Carlas Scherben ist auch ein Roman über Grossmutter, Mutter und Tochter – drei Generationen von Frauen, deren Beziehungskisten jede auf ihre Art den Zeitgeist spiegeln. Die Schlüsselfigur für alle drei Frauen bleibt jedoch Paul. Das Mannsbild mag am Schluss ein Scherbenhaufen sein, ein Scherbengericht ist dieser Roman trotzdem nicht. Er ist nicht bitter.

Für die Leichtigkeit sorgen der Gesprächston des Romans, die vielschichtigen und profund recherchierten Themen – und immer wieder diese Zwicker-Sätze: «Familie. So ein harmloses Wort. Und gleichzeitig so schrecklich, dass es jeder Psychotherapeutin zuvorderst auf der Zunge hockt.»