, 1. Oktober 2018
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Godot kommt nicht – dafür die Russen

Das Theater Konstanz eröffnet die Spielzeit mit einem Doppelschlag. Andrej Woron inszeniert Bulgakows «Hundeherz» grell, pornografisch und skurril. Direktor Christoph Nix spielt in einem Klassiker seine Klasse aus: Becketts «Warten auf Godot».

Eine Bühne wie ein Gemälde: Renate Winkler, Nikolai Gemel als Lumpi und Harald Schröpfer in «Hundeherz». (Bilder: Ilja Mess)

Rumms, geht die Tür auf und herein stürmen sie, begleitet von sibirischem Schneegestöber: die Russen. Singend, grölend, saufend. Mit Pauken und Trompeten, mit leichten Mädchen im Arm, mit Fellkappen und schweren Lederstiefeln. Ein eisiger Wind weht durch Moskaus Strassen und man möchte nicht einmal einen Hund vor die Tür jagen – doch genau da ist er gelandet: Lumpi, ein Köter mit räudigem Fell und einer fies eiternden Verletzung an der Flanke.

Die durchgeknallten Russen: Jonas Pätzold, Antonia Lena Jungwirth, André Rohde.

Wie eine Erscheinung taucht da der noble Herr im Pelzmantel auf, der feine Wurst in der Tasche hat und Lumpi damit in seine Wohnung lockt. Der Hund kann es kaum fassen: Perserteppiche, Ölgemälde, ein Klavier – der Jackpot der Hundelotterie. Der angesehene Prof. Dr. Preobraschenski, Inhaber des luxuriösen Etablissements, kümmert sich rührend um den Streuner, und bis dieser begreift warum, ist er schon auf dem OP-Tisch gelandet. Und damit ist auch klar, woher die geballte Nettigkeit weht: Lumpi ist Teil eines Experiments. Hoden und Hirnanhangsdrüse werden durch menschliche Organe ersetzt. Was nicht zu erwarten war: Lumpi überlebt den Eingriff, verwandelt sich zu seinem Spender, dem Balalaikaspieler, und macht dem Professor das Leben zur Hölle.

«Hundeherz»: Vorstellungen bis 28. Oktober

theaterkonstanz.de

Die satirische Vorlage von Michail Bulgakow aus den 1920ern geht der Frage des «Neuen Sowjetmenschen» nach, an welchem damals eifrig gebastelt wurde. Die Hodenverpflanzung ist keine Erfindung der Literatur, und auch heute ist die Verwendung tierischen Gewebes, etwa der Herzklappen von Schweinen, Usus. Ist das der Grund, dass manch einer so ein herzloses Schwein ist? Bulgakow spielt mit dieser Metamorphose und lässt seinen Lumpi zu einer Person des Proletariats werden, sogar mit fester Anstellung und bald auch einer Braut.

Hund und Herrchen: Nikolai Gemel, Harald Schröpfer.

Gefundenes Fressen ist dieser Stoff für Regisseur Andrej Woron, der in der vergangenen Spielzeit schon Bulgakows Der Meister und Margarita schrill und knallig auf die Bühne brachte. Seiner Handschrift bleibt er in Hundeherz treu und übernimmt auch einige Elemente aus der letzten Inszenierung. Wem der wilde Umzug der Hexen damals zu schnell um die Ohren geflogen ist, bekommt in der Spiegelhalle nochmal die Möglichkeit einer näheren Betrachtung.

I Woron

Woron arbeitet am Theater wie an einem Gemälde: Das Bühnenbild ist seine Leinwand. Mit groben Pinselstrichen und feinen Details malt er ein opulentes russisches Wohnzimmer, das sich im Handumdrehen in einen weissgekachelten OP-Saal verwandelt. Das statische Bild allein wäre ein Kunstwerk für sich, doch damit ist es bei Woron lange nicht genug. Er füllt die Inszenierung bis zum Rand mit Russland-Bildern, die er teils ins Ironische überzeichnet. Das zeigt sich, wenn André Rhode als Hipsterprolet verkleidet zur Penisverlängerung «kommt», oder Antonia Jungwirth als Revolutionärin nicht nur die Fassung, sondern auch mal die Hose verliert. Es sind (homo-)erotische Momente, die nicht ausbleiben dürfen, schrille, bunte Kostüme (Magdalena Musial), die mit winzigen Details Highlights setzen, aber vor allem sind es Szenen, die vor Skurrilem nur so strotzen. Hier sei nur das ornithologische Flötenkonzert genannt – man möchte sich die Szene mit nach Hause nehmen und in Dauerschleife laufend übers Bett hängen.

Vorne Nikolai Gemel, hinten Jonas Pätzold, Renate Winkler und Harald Schröpfer.

Die Premiere von Hundeherz ist auch Auftakt für neue Mitglieder des Ensembles. Renate Winkler spielt das Hausmädchen und ist mit ihrer Frida-Kahlo-artigen Aura fast schon zu schön für eine einfache Angestellte, die sie mit Witz und Esprit zeichnet. Harald Schröpfer hat die Rolle des bourgeoisen Professors bis ins Detail verinnerlicht und changiert gekonnt zwischen Sanftmut und Cholerik. Und Nikolai Gemel ist Lumpi. Er hat die Körpersprache des Hundes studiert und hält die Anspannung während des gesamten Stückes aufrecht – bis in die Zehenspitzen. Vermenschlicht erinnert er an den Wiener Xanax-Rapper Yung Hurn und gibt überzeugend den alkoholaffinen Kneipenmusiker. Auch die Bisherigen überzeugen: Axel Julius Fündeling, Jonas Pätzold und Denis Ponomarenko.

Alles in allem ein Theaterabend, der Woron-Fans auf ihre Kosten bringt. Lediglich das Ende kommt ein wenig überraschend und wirkt nicht ganz rund. Ist der Lumpi jetzt tot? Oder doch wieder ein Hund? Während man noch rätselt, geht das Licht aus und der Applaus rauscht – verdientermassen.

Keine Langeweile mit Godot

Zwei Männer warten auf einen Herrn namens Godot. Zwei Stunden und 15 Minuten lang, um genau zu sein. Doch Godot kommt nicht. Was macht Theaterintendant Christoph Nix mit Becketts meistgespieltem Klassiker des Absurden, der die Spielzeit eröffnet?

Unter seiner Regie spielen Estragon (Peter Posniak) und Wladimir (Andreas Haase) oder Didi und Gogo, wie sie sich auch nennen, alle Facetten aus. Mal verzweifelt wie am Ende einer langen Ehe (für eine Trennung ist es nun auch schon zu spät), mal plump wie Dick und Doof, dann wieder mutig wie zwei junge Liebende und im nächsten Moment wieder am Aufgeben. 

Die Ästhetik ist wunderbar zeitlos (Kostüme Ursula Oexel-Menzel), die Bühne von Marie Labsch raffiniert: Auf einer Art Rampe sind Elemente nach dem Prinzip Punkt-Punkt-Komma-Strich angeordnet, und es entsteht tatsächlich am Ende ein Mondgesicht. Die Perfektion zeigt sich auch in vielen weiteren Details: So hängt Wladimir zu Beginn des ersten Aktes ein weisser Hemdszipfel aus der schwarzen Hose, dessen Form sich zu Beginn der zweiten Hälfte in einem schwarzen Blatt am weissen Kreidebaum rekapituliert.

«Warten auf Godot»: Vorstellungen bis 31. Oktober

theaterkonstanz.de

Nix bringt in diese Welt aus Schwarz und Weiss all sein Können aus der Clownerie ein, die er selbst studiert hat. Peter Posniak und Andreas Haase verneigen sich vor Charlie Chaplin, Karl Valentin (man merkt es über das ganze Stück hinweg: Kunst ist schön, aber macht viel Arbeit) und der fabelhaften Welt der Zirkusclowns. Doch auch die schönste Clownerie vertreibt nicht den düsteren Charakter, die Schwere, die über den beiden Protagonisten hängt und die Ausweglosigkeit, in der sie sich befinden. Die Begegnung mit dem Duo Pozzo (Odo Jergitsch) und Lucky (Peter Cieslinski), der leibgewordenen Theorie Hegels über Herrschaft und Knechtschaft, bringt bekanntlich auch keine weiteren Erkenntnisse, sie verkürzt lediglich die Zeit des Wartens. Auf wen, fragt Estragon. Auf Godot, sagt Wladimir.

Wladimir (Andreas Haase) und Estragon (Peter Posniak) treffen Lucky (Peter Cieslinski) und Pozzo (Odo Jergitsch).

Allerdings: Ist Warten überhaupt noch zeitgemäss? Auf Bahnsteigen starren die Menschen auf ihre Smartphones, in Arztpraxen starren die Menschen auf ihre Smartphones und in den Hallen der Ämter starren die Menschen auf ihre Smartphones. Irgendwo jemand, der wartet, der sich gerade langweilt? Fehlanzeige…

Das Stück hält uns dennoch einen Spiegel vor, denn selbst das Smartphone schützt nicht vor der Pein der Welt, in der wir leben, vor der Fratze des Kapitalismus, wie ihn Pozzo verkörpert, vor der Macht der Gewohnheit und vor der Sterblichkeit wie in Pozzos zornigem Monolog. Und trotz aller Düsternis gibt Beckett auch eine hellere Antwort: «Die Tränen der Welt sind unvergänglich. Für jeden, der anfängt zu weinen, hört ein anderer irgendwo auf. Genauso ist es mit dem Lachen. Sagen wir also nichts Schlechtes von unserer Epoche. Sie ist nicht unglücklicher als die vergangene.»

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