Go all the way #20

«So üben wir, auszuhalten, wie es ist, wenn es gerade nicht so ist, wie es doch eigentlich jetzt sein könnte.» Ruth Wilis neuer Tagebuch-Bericht aus Varna in Bulgarien erzählt von Kälte, Hristov und dem Warten aufs Schiff.
Von  Gastbeitrag

Die Möwen stehen im Wind an Ort und Stelle. Eisigkalte, winzige Flocken fallen, fast mehr gefrorene Luftfeuchtigkeit als Schnee. Das Meer ist schwarz, türkis oder braun. Rau. Wir meist klitschnass, wenn wir seine Nähe ausserhalb des Hafenbeckens suchen. Das Erlebnis, seis drum… wiegt die Kälte auf. Angedonnert werden! Ganz nahe an dieser Kraft sein und darin versuchen, zwischen den einzenen Attacken durchzukommen. Der Heimweg, nass wie wir – natürlich – sind, bissig kalt. Daheim komme ich unter die heisse Dusche, die Hunde frottiert und vor den kleinen Elektrofen. We love it.

Seit einigen Tagen haben wir unseren Freund nicht gesehen. Er ist eins der grössten Geschenke, die Varna für uns bereithielt. Er war auf dem vor Anker liegenden Schiff, entlang welchem wir seit einer Stunde kreisten. Pluto, schneller als seine Angst, hatte nach dem x-ten Mal rüberriechen seine Vorderpfoten auf das wankende Ding gestellt, stand nun über einem circa zwei Meter tiefen Abgrund zwischen Mole und Schiff, Homer seinerseits am hintersten, entferntesten Ende seiner Leine. Der Mann sah uns, lachte über Pluto und öffnete die Luke, wo wohl für Passagiere üblicherweise eine Rampe hineingeschoben wird. Pluto, eh schon halb drüben, satzte los und drehte sich wie irr an der Leine, die ihn über den Abgrund ans Festland tackerte. Der Mann streckte die Hand aus, ich reichte ihm die Leine und er zeigte dem sich schier überschlagenden Pluto das Schiff. Homer in purem Rückwärtsgang vor diesem Monstrum, das Pluto verschluckte.

Pluto wirkte wie nach einer ersten Liebesnacht, als er mit einem Sprung wieder bei uns landete, der Mann mir die Leine reichte. Ich dankte ihm, das Herz auf der Zunge, das war ein solch unerwartetes, grossartiges Geschenk. Pluto hatte soeben aus eigenem Antrieb ein Schiff betreten!

Mondlandung

Als wir am nächsten Tag erneut die Mole entlang spazierten, zeigte sich der Mann wieder, Pluto ein Zwirbel vor Aufregung, ihn wiederzusehen. Erneut öffnete er das Tor, und Pluto verschwand auf dem Schiff. Ich schaute zum starren Homer, stellte einen Fuss aufs Schiff, abwartend, wie er reagierte. Zwei Schritte rückwärts und dann: Windhund im Flug. Er hätte den x-fachen Abgrund locker genommen, aber Schiss vor Wasser ist Schiss vor Wasser. Jedenfalls: Seither öffnet Hristov uns das Tor, wann immer er da ist und nicht grad mit Arbeit besetzt. Die Hunde freuen sich ab Hafeneingang auf ihn. Im Gegensatz zu mir wissen sie ja längst, ob er da ist oder nicht. Wir haben ungeplant unsere Mondlandung «Schiff» ohne Stress gemacht! Und ich hatte gedacht, ohne Beruhigungsmittel würde ich die beiden eventuell gar nicht aufs Schiff kriegen. Nun ist es in der aufgestückten Apotheke als Beruhigung für Unvorhergesehenes. Yeah!

Aber eben. Nun haben wir Hristov seit einigen Tagen nicht gesehen, und Homer und ich kriegen die Herausforderung verpasst, mit frustriertem Pluto unterwegs zu sein. Nun, da wir es zum Hafen schaffen, Mondlandung auch auf der Schon-geschafft-Seite, steht Ruhe auf der Prioritätenliste oben. Pluto hat notgedrungen gelernt, zu fordern, anders hätte er wohl nicht gelebt. Aber dieses Fordern als Dauermodus bedeutet Stress für uns alle. Also sind wir in Zeitlupe unterwegs. Üben, den Ball flach zu halten. Plutos Kopf ist echt hart. Manchmal sind wir eine geschlagene Stunde auf der Wiese nahe Zuhause zwischen Unmengen an Hinterlassenschaften am Auf- und Abgehen, ehe wir unseren Spaziergang «wirklich» aufnehmen können. Ich übe mich, das anders zu sehen. Plutos Warum-geschieht-nichts-Frust sucht Entladung. Nach drei Stunden Rumstehen am Hafen passierte es einfach: durften wir erleben, wie er Ruhe fand. Für mich die grösste Herausforderung, zu handeln in Akzeptanz, wie er ist. Rumstehen nicht gegen, sondern Rumstehen mit. Jedes «Gegen» macht mich zur Zauberlehrlingin, die ganz einfach überhaupt nicht zaubern kann.

So üben wir Varna bei Frust. Üben alle, auszuhalten, wie es ist, wenn es gerade nicht so ist, wie es doch eigentlich jetzt sein könnte. Und merken, dass es saugut ist, wie es ist. Wie ernst und klein unsere «Dramen» sind. Ein obdachloser Mann, der unter einem Balkon in unserer Nähe gewohnt hat, ist verschwunden. War auf einmal nicht mehr da.

Schiffsbereit

Wir sind ausgerüstet für unsere Weiterreise, die Hunde schiffsbereit. Die gute Outdoor-Ausrüstung wieder bei uns – Vera und Nina sind auch Homers Freundinnen, er hat das Paket, als es eintraf, wie seinen Augapfel gehütet. Ich habe vor Freude über die beigelegten Worte und Geschenke geheult, was wiederum Pluto aufwühlte, dass er fast in mich hinein kroch. Ein Tohuwabohu der Herzen. Die Reiseapotheke ist aufgerüstet, so dass allfällige Tierarzt-Undichte in Georgien auf dem Land uns nicht gleich kopfstellt.

Manche Medikamente sind hier für Menschen und Tiere zugleich, was mich lachen machte bei der Tierärztin. Ich hatte bisher für mich Blasenpflaster und vier Aspirin dabei nebst Verbandszeug. Ich pausiere, wenn etwas ist. Aber wer weiss, anfühlen tut es sich in Ordnung, der Ferne auch bezüglich mir notfallmedizinisch aufgestückt zu begegnen. Den für die Grenzüberschreitung anstehenden offiziellen Gesundheitscheck der Tiere wird zum Glück «unsere» Tierärztin für mich einfädeln, sobald ich weiss, wann unser Schiff geht (sprachlich stehen wir an einer Grenze). Ich schaue nicht, wann das nächste Schiff geht, ehe die Steuererklärung da ist. Sonst erfasst mich «Oh nee, das haben wir nicht gekriegt»-Stimmung. Verdienen wir nicht! Aber wir scharren alle drei mit den Füssen.

Es ist eine der grössten Diskrepanzen, die ich je erlebt habe, dieses Hier-noch-Sitzen, in Administration, in Wänden, in der Stadt, manchmal im Frust. Und dieses Abenteuer im Herz tragen. Im Hier manchmal erfasst von einem Gefühl, mein Nichtwissen sei ungenügend, ich müsste (was eigentlich?) wissen, ich müsste tun, wo alles um mich doch rollt. Stadt eben. Und vor uns genau dasselbe, pures Nichtwissen. Und es reisst das Herz auf. Soviel Raum.

Chaos und Toleranz

Diese Reise macht langsam langsam etwas auf, ich glaube, Offenheit dafür, dass es tatsächlich Orte gibt, an die man gehört, und andere, an welche nicht. Dass es eine bestimmte Zusammensetzung an Zivilisation gibt, die sich gut anfühlt im Gegensatz zu anderen. Und dass es einfach eine Tatsache ist, dass das eine sich beengend anfühlen kann und das andere nicht.

Varna ist ein bisschen meine Stadt geworden. Sie ist grauslig, was zum Beispiel den Verkehr angeht. Sicherheitslinien sind Parkplatz, Gehsteige sowieso. Zebrastreifen auch. Und rechteste Fahrspuren selbstredend – ausgenommen auf den Hauptverkehrsachsen. Zu Stosszeiten hat letzthin die Ambulanz 40 Minuten gebraucht für drei Ecken im Quartier, der verunfallte Motorradfahrer lag auf der Strasse. Ein urfürchterlicher Graus, selbst für bulgarische Verhältnisse, wie mir ein Bulgare erklärt.

Aber gleichzeitig herrscht friedlicher Konsens, dass ich dann halt eben mit meinen beiden berucksackten Tieren auf der Strasse gehe. Und zu dritt sind wir schier autobreit. Will jemand über die Strasse, ist es normal, dass die Autos abbremsen. Egal, ob ein Zebrastreifen 20 Meter weiter vorhanden wäre. Dort dafür ist es lebensgefährlich, wirkich davon auszugehen, man habe Vortritt. Es ist eher so: Alle schauen und handeln. Geh einfach nicht davon aus, dass es ein klares Richtig und Falsch gibt. Ist es nass, schlängeln sich alle bestmöglich den ungefluteten Stellen entlang. Viel Chaos. Und, so mein Gefühl, damit einhergehend ein äquivalentes Mass an Toleranz.

Irgendwas ist immer. Auch daheim. Bei grosser Kälte draussen steigt der Kühlschrank aus. Dann spinnt mal die Waschmaschine, dann ist das Wasser abgestellt, weil gerade irgendein Notfall ist irgendwo – circa einmal pro Woche, oder der Strom kollabiert. Was weiss ich… Und dann wird wieder gebastelt. Warum sollte man darüber frustriert sein? Für mich: Gelassenheit lernen. Wer erwartet denn, dass das Leben ist, wie man es sich denkt? Dass etwas nicht ist, wies sein sollte, ist, so sehe ich, kein Hinderungsgrund. Es ist für so viele Menschen hier das Alltäglichste der Welt. Ich glaube, ein Stück Herz wird hierbleiben. Dafür.

Ruth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Vor gut einem Jahr ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – und, in Bulgarien zugelaufen, Pluto, Hund Nummer zwei. Auf saiten.ch berichtet Ruth Wili von ihren Erfahrungen unterwegs.