Go all the way #2

Ruth Wili ist zu Fuss unterwegs von St.Gallen ans Schwarze Meer. Sie berichtet auf saiten.ch von ihrer Reise. Hier der zweite Tagebuch-Bericht, aus dem Urwald im Friaul.
Von  Gastbeitrag

Ich verbringe im Moment regelmässig Zeit mit meinem zukünftigen Ich. Schaue ihm einfach zu, wie es ist, was es so tut, und wie. Homer hat da schon einige Jährchen in den Knochen, geniesst es, bisweilen im Radanhänger mit von der Partie zu sein.

Gestern Morgen also, beim Zeit mit ihr Verbringen, trat sie auf den ringförmigen Balkon heraus und setzte sich auf die weisse Altorferliege – aha, die gibt’s dann also noch! Vieles sehe ich da nämlich nicht mehr – und fragte ihren Körper, wie es ihm gerade gehe und ob er was brauche. Und wenn ja, was. Und der Körper antwortete: «Wieder einmal Pucken». Ich staune, ich kenn das nicht, sie hingegen lächelt, «Ok! Kommt aufs Programm für heute.»

Wir frühstücken im überladenen Raum der Rokokoherberge, bei der freundlichen alten Dame, ich zahle, packe, setzt mich noch kurz hin, um mitzukriegen, was für Gedanken und Geschichten mich gerade bevölkern, dann treten wir hinaus. Wir spazieren zur Apotheke, wo der Nahrungsmittelzusatz für Homer angekommen ist. Gorizia. Italien. Ich wollte den hier noch organisieren, da es sprachlich demnächst komplexer würde. Für heute war Regen gemeldet, für morgen Gewitter. Klar war, wir würden heute dennoch aufbrechen, unsere Unterkunft war eh ab heute ausgebucht, und zentraler: da war kein Impuls, zu bleiben. Wohin aber? Unklar.

Als wir die Apotheke verliessen, regnete es in Strömen. Wir stellten uns erst einmal unters Dach der Bushaltestelle, ein bisschen Farbe vom zukünftigen Ich in mir. Sie ist geduldig. Und irgendwann liess der Regen etwas nach. Wir zogen los. Was ich mittlerweile spürte: Sintflut plus fremdes Land, dessen Sprache ich nicht kenne, ist eine Nummer zu gross für den Moment. Erst mal südwärts. Wenn wir zwischen Fluss und Altstadt blieben, müsste das hinkommen. Taten wir. Und tat es. In Geduld für uns beide und fürs Wetter umwanderten wir Pfützenlagunen und testeten verschiedene Unterstände. Und Homer durfte den Regen verabscheuen, ohne dass ich dadurch zur Zumutung wurde. Das geht also. Kuhl! Und wenns nur dafür war, wozu wir heute weitersollten…!

Savogna d’Isonzo. Eine Bar. Espresso. Sie machen mir ein veganes Sandwich! Ich frage etwas rum. Wir müssen keine Weltmeisterinnen werden im Regenwandern, und die Unterkünfte sind sehr spärlich gestreut hier. Hinzu kommt, das meiste Land hier ist Urwald. Da stehen keine Scheunen, in welchen wir zur Not unterkriechen können. Und bei dem Regen Zelten avisieren… Ich bin Warmduscherin.

Ich erhalte einen fünften Tipp und der klappt! Sie nehmen uns. Wenns regnet, so mein Gefühl, steigt das Mitleid und zugleich die Absagefrequenz beim Anfragen. Der Preis würgt mich kurz, das sind zwei volle Tagesbudgets für eine Nacht mit Frühstück, nie bezahlt, aber irgendetwas sagt mir, das ist für heute in Ordnung.

Ein unerwarteter Wanderweg zu diesem Dorf ist das Geschenk, und Brasiliengefühle steigen in mir auf. Rote, klitschnasse Erde und wucherndes Grün. Unser Weg wird gesäumt von wilden Spargeln, Iris, Lilien und unechten Kapernbüschen (?). Die Vegetation so üppig – seit dem Eintritt ins Friaul übrigens –, dass man oft keine 20 Meter ins Dickicht sieht. 2h, stand auf dem Schild nach San Michele del Carso. Man kann hier ohne weiteres in 50 Metern Entfernung an einem Dorf vorübergehen, ohne es mitzukriegen.

Wir folgen, da kartenfrei unterwegs, also konsequent den Markierungen. Und zwei Stunden später stehen wir vor einer beschilderten Abzweigung: San Martino vor uns, San Michele hinter uns. Volltreffer. Und Déjà vu. Ein einzelner, langgezogener Hügel in einer Ebene. Verirren vorprogrammiert. In der Provence warens zwei Stunden, die ich im Kreis ging, ehe ich es, beim Ausgangspunkt, kapierte. Ich danke dem Himmel für seine im Moment gerade recht gute Gesinnung und wir wenden. Drei Abzweigungen später, bei der die zweite der ersten und die dritte der zweiten zum Verwechseln ähnlich sah – Karstlandschaft, ich liebs! –, liegt vor uns ein Freilichtmuseum aus Kriegszeiten. Beglückend vor allem: eine kleine Strasse! Nun müssen wir nur noch herausfinden, in welche Richtung «zurück» ist. Zur rechten Zeit ist ein Mensch da und ich frage! Und 45 Minuten später liegt vor uns das Dorf und unsere Unterkunft! Zwei Porsches davor geparkt und ich mutiere dennoch nicht zum Alien, als wir ankommen. Wieviel Gold denn noch?

Als wir unser Zimmer betreten, liegt ein weisser, dicker Bademantel auf dem Bett bereit. Und zwei Sunden später, beide satt und Homer warm eingerollt, klickts, und ich liege eng in die riesige Frottierwäsche gepuckt auf dem Bett.

Ruth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Vor rund zwei Monaten ist sie aufgebrochen zu einer mehrmonatigen Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer. Auf saiten.ch berichtet sie von ihren Erfahrungen unterwegs.