Getarnte Botschaften

In der Kunstzone der Lokremise stellt die Ausstellung «Camouflage» vier Kunstschaffende in raumeinnehmenden Installationen und Skulpturen vor. Sie entführen in surreale Wirklichkeiten und bieten Blicke unter die glatte Oberfläche. von Sandra Cubranovic
Von  Gastbeitrag
Kasia Fudakowski: «Continuouslessness; ein lebenslanges Projekt»

Ein wackelig anmutendes Gerüst aus Metallstäben steht mitten im Foyer der Lokremise. Flauschiges Fell hier, ein überdimensionaler Zahn aus Draht dort und kornblumenblaue Dildos da. Schwarze, blonde und geflochtene Haarteile stecken in einem Plexiglaspanel. Riesige, abgekappte Fingernägel baumeln mobileartig an einem Fadengeflecht, welches an einem Metallpanel befestigt ist. Als Träger für all diese Objekte halten die Standelemente aus Metall her. Sie fügen sich zu einem Paravent aus Wänden zusammen und bilden, erst durch ihre Anzahl, ein installatives Arrangement.

Es ist die Arbeit von Kasia Fudakowski, die sich mit Phänomenen des Datings beschäftigt. Die Londoner Künstlerin, Jahrgang 1985, analysiert die Profile der Akteurinnen und Akteure und versucht die realen Personen aus ihnen herauszuschälen. In Profilen auf Dating-Plattformen oder in Gesprächen bei romantischen Treffen werden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern persönliche Mängel, ob charakterliche oder auch das Aussehen betreffende, geschickt getarnt.

Die inszenierten Haarteile versinnbildlichen einerseits das optimierte Profil, andererseits die nackte Wahrheit. Von vorne betrachtet schimmert die füllige Haarpracht – tritt man an die Rückseite des Haar-Panels, werden die kleinen Haken, mit welchen die Haarteile befestigen sind, sichtbar. Was ist nur Performance und was ist Realität?

Das Wort im Bild

Der Konzeptkünstler Zin Taylor, Jahrgang 1978, bringt seine auf Stadtspaziergängen gesammelten Eindrücke mit einem dicken Marker auf die weissen Wände. Der Künstler aus Calgary hat eine nonverbale Sprache kreiert, die mit grafischen Symbolen statt mit Buchstaben funktioniert. Durch die Einfachheit der Ausführung erinnern seine Illustrationen an überdimensionale Kritzeleien. Sein Alphabet besteht aus Punkten, Winkeln, Kurven und Zickzacklinien.

Neue Zeichensprache: Zin Taylors «Thougths of a dot as it travels a surface» in der Lokremise.

Mit diesen Symbolen schafft er zeichnerisch neue Narrative. Für die Ausstellung in der Lokremise hat er auf einem Spaziergang durch St. Gallen Eindrücke gesammelt. Die Suche nach repräsentativen Objekten wie der Stiftsbibliothek oder dem Waaghaus ist in seinem Index «Void Flowers», dem Verzeichnis der gesammelten Eindrücke, vergebens. Es findet sich vermeintlich Unscheinbares wie Mondstein, Birkenstock, Pyramide, Flöte oder Kaktus.

Camouflage: bis 16. Juni, Lokremise St.Gallen

kunstmuseumsg.ch

Diese Begriffe übersetzt er mithilfe seines Alphabets in Zeichnungen. Die Übersetzung vom Wort ins Bild ermöglicht eine andere Betrachtungsweise und damit eine Erweiterung der Interpretation und Leseart. Dieser neu geschaffene Leerraum kann Bereicherung und Veränderung bedeuten und dazu einladen, statt alteingefahrener Muster neue gedankliche Wege durch die Stadt zu gehen.

Ziviler Ungehorsam

Während die Gedanken noch um Zin Taylors Kakteen und Mondsteine kreisen, ist in einer Ecke ein hämisch-hysterisches Lachen zu hören, das in einer Endlosschlaufe abgespielt wird. Der Blick hinter die fünf Meter hohe Leinwand im hinteren Teil des Ausstellungsraums zeigt eine skurrile Animation: Ein lachender Fliegenpilz sitzt in einem Bücherregal, eine abgehackte Hand baumelt in der oberen Ecke, und Blutspuren sind am Boden zu sehen. Repetitiv fällt ein Buch aus dem Regal und zeigt Textfragmente von Joe Hill, einem Liedermacher und Gewerkschaftsaktivisten, der 1915 in den USA zum Tod verurteilt wurde.

Die abgehackte Faust dient als Symbol eines unterdrückten Widerstands, das stete Tropfen des Bluts symbolisiert die Spuren, die die Existenz des zivilen Ungehorsams trotz Beseitigung sichtbar machen. Die Künstlerin Catherine Biocca aus Rom, Jahrgang 1984, arbeitet mit bewegtem Bild, vertauscht Zweidimensionales mit Dreidimensionalem und versucht mit diesem Positionswechsel ihrerseits Denkmuster aufzulösen.

Die Entlarvung der Mimikry

Kurator Lorenzo Benedetti spricht von zwei Linien, die sich durch die Ausstellung ziehen. Die eine befriedigt den ästhetischen Anspruch, die andere zeigt den Weg zu den getarnten Botschaften.

Blick in den Vorhang: «Curtain» der deutschen Künstlerin Grace Schwindt.

Die Entlarvung der Mimikry – die Fähigkeit der Täuschung oder Anpassung zum eigenen Schutz – erschliesst sich der Betrachterin und dem Betrachter nur, wenn ein durchdringender Blick hinter die Gegebenheiten gewagt wird. Ein neugieriger, mutiger und beharrlicher Schritt durch die projizierte Konstruktion der Ausstellungswirklichkeit und deren Oberfläche hindurch lohnt sich allemal, da die Kunst viel mehr ist als nur Platzhalter für den winzigen Moment des ästhetischen Genusses.