Gesichter der Revolte
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«Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Er ist plurinational, interkulturell, regional und ökologisch.» So lautet der erste Artikel des Entwurfs zur neuen chilenischen Verfassung. Ausgearbeitet wurde sie von einem 155-köpfigen, demokratisch gewählten Konvent, zur Hälfte aus Frauen bestehend und mit expliziten Sitzen für Indigene, die in Chile rund elf Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Der Verfassungsentwurf ist progressiv: Nicht nur der indigenen Bevölkerung, auch der Natur sollen erstmals in der Geschichte Chiles Rechte eingeräumt werden. Er schafft den Rahmen für einen Sozialstaat, der diesen Namen verdient hat, ausserdem garantiert er Geschlechterparität in staatlichen Institutionen, sexuelle und reproduktive Rechte, Landrechte von Indigenen sowie Umweltschutz und Klimagerechtigkeit.
Die alte Verfassung wurde 1980 unter der Pinochet-Diktatur verabschiedet. Als Chile zehn Jahre später formell wieder zu einer Demokratie wurde, blieb sie in Kraft, wurde nur da und dort angepasst. Der Kern jedoch, das neoliberale Wirtschaftsmodell, blieb derselbe.
Willkommen im «Einkaufscenter Chile»
Die neue Verfassung ist das Ergebnis langwieriger Kämpfe, die 2019 und 2020 ihren Höhepunkt erreichten. Eine Erhöhung der öV-Preise in Santiago de Chile führte zu heftigen Protesten. Es war der letzte Tropfen im Fass. Weit über eine Million Menschen ging auf die Strasse, um gegen soziale Ungleichheit, niedrige Löhne, unwürdige Renten und ein ungerechtes Bildungs- und Gesundheitssystem zu protestieren. Allen voran die Frauen. Es war der grösste Volksaufstand in der Geschichte Chiles.
Mi país imaginario:
ab 6. Oktober im Kinok St.Gallen
Altmeister Patricio Guzmán, einst selber Opfer der Pinochet-Diktatur, hat diesen Aufbruch dokumentiert. In Mi país imaginario lässt er Aktivistinnen, Filmemacherinnen, Mütter, Politikerinnen, Sanitäterinnen und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, begibt sich mit ihnen auf eine Reise durch das ausverkaufte «Einkaufscenter Chile», die tränengasvernebelten Strassen, den entfesselten Militärapparat und die verkrusteten Parlamente.
Der Leidensdruck vor der Revolte war gross. Viele litten unter «Bitterkeit, einer ständigen Niedergeschlagenheit und Ungerechtigkeit.» Die Frauen sprechen auch von einer grossen Entfremdung. Nach der Militärdiktatur sei man 30 Jahre lang «ruhiggestellt worden», politische Bildung, geschweige denn Staatskunde, habe es kaum gegeben.
Am 11. Oktober 2019 ist das Fass endgültig übergelaufen, alle Wut in die Strassen geflossen. Sinnbildlich dafür steht die Schülerin, die nach der Fahrpreiserhöhung übers Drehkreuz sprang und unzählige mitzog. Acht Tage später ruft der damalige rechte Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand aus «gegen den Feind, der zu allem bereit ist».
Eine Frage des Bürger:innensinns
Sie waren zu vielem bereit. Wütend, ja, aber ihren Ausdruck fand die Wut oft auf kreative, konstruktive, kollektive Weise. Oder wie es einmal poetisch heisst: «Es gibt Flammen, die zerstören, und es gibt Flammen, die ernähren.» Das Gemeinschaftsgefühl trägt den Film. «Die Revolte hat mir Kraft gegeben, mich vitalisiert. Den Menschen zu helfen, für die Meinen zu kämpfen, das ist etwas, das mich tief innen berührt», sagt eine Aktivistin. Und die Sanitäterin erklärt: «Uns verbinden ethische Prinzipien, es ist eine Frage des Bürgersinns. Wir lernen uns beim Lebenretten kennen.»
Es sind die Frauen, die dieser neuen sozialen Bewegung das Gesicht geben, die mobilisieren. Guzmán arbeitet das präzise heraus. Und er zeigt auf, dass der feministische Kampf im Kern immer auch ein Kampf für die Menschenrechte ist und letztlich zu mehr Gemeinwohl und Würde für alle führt.
Kein Wunder, sind es auch die Frauen, die den Soundtrack zum Protest liefern: «El violador eres tú! – der Vergewaltiger bist du!», heisst es im Gedicht des colectivo Las Tesis. Der Protestsong ging um die Welt. Einer von vielen Gänsehautmomenten im Film, frau kann gar nicht anders als sich von diesen Aufbrüchen anstecken zu lassen.
Die Pandemie hat die chilenische Revolte ausgebremst. Im Oktober 2020 haben sich trotzdem 80 Prozent für die Erarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen. Am 4. September 2022 wurde darüber abgestimmt: 62 Prozent haben den Entwurf abgelehnt. Einer der Gründe dafür ist das fehlende Vertrauen in die Politik, hinzu kam eine massive Desinformationskampagne von rechts. Stoff für einen weiteren Film, Herr Guzmán?