Geringgeschätzte Bibliothekstradition

Dass die St. Galler FDP heute fordert, der Kanton solle auch die Bibliotheken ausserhalb der Hauptstadt berücksichtigen, ist löblich. Dass ihm dazu sowohl die Mittel als auch eine Rechtsgrundlage fehlen, ist aber das Resultat ihrer eigenen Politik.

Man muss Um­ber­to Ecos Mit­tel­al­ter­kri­mi Der Na­me der Ro­se nicht ge­le­sen ha­ben, um zu wis­sen, dass St.Gal­len oh­ne sei­ne Bü­cher- und Bi­blio­theksst­rad­ti­on nicht denk­bar wä­re. Aber dass die für die eu­ro­päi­sche Mit­tel­al­ter­for­schung so wich­ti­ge Stifts­bi­blio­thek Ein­gang in die Welt­li­te­ra­tur ge­fun­den hat, könn­te vor al­lem auch je­nen Stim­men hel­fen, die schon in der De­bat­te vor gut zehn Jah­ren um das kan­to­na­le Bi­blio­theks­ge­setz in die Fun­da­men­tal­op­po­si­ti­on gin­gen und dies un­ter an­de­rem da­mit be­grün­de­ten, im In­ter­net­zeit­al­ter wür­den ge­druck­te Bü­cher und da­mit auch phy­si­sche Bi­blio­the­ken an Be­deu­tung ver­lie­ren.

Das Ge­gen­teil ist der Fall, die Aus­leih- und Be­suchs­zah­len ha­ben in den letz­ten Jahr­zehn­ten kon­ti­nu­ier­lich zu­ge­nom­men – Di­gi­ta­li­sie­rung hin oder her. Das wuss­te man frei­lich schon da­mals, und den­noch muss man ge­ra­de je­ne Po­li­ti­ker:in­nen, die sonst bei je­der Ge­le­gen­heit mit dem Tra­di­ti­ons­ar­gu­ment han­tie­ren, bis heu­te im­mer wie­der dar­auf hin­wei­sen, wel­che ge­sell­schaft­li­che Be­deu­tung öf­fent­lich zu­gäng­li­che Bü­cher und ge­teil­tes Wis­sen ha­ben – ge­ra­de für St.Gal­len.

Ei­ne Stu­die der Fach­hoch­schu­le Chur brach­te 2003 die quan­ti­ta­ti­ven und qua­li­ta­ti­ven Schwä­chen der Bi­blio­theks­ver­sor­gung im Kan­ton St.Gal­len ins po­li­ti­sche Be­wusst­sein. Be­män­gelt wur­den ins­be­son­de­re die zu ge­rin­ge Reich­wei­te, das zu schma­le Me­di­en­an­ge­bot, die Un­ter­fi­nan­zie­rung und die un­zu­rei­chen­de Ko­or­di­na­ti­on zwi­schen den Bi­blio­the­ken. Nur in gut der Hälf­te al­ler Ge­mein­den gab es da­mals über­haupt ei­ne öf­fent­li­che Bi­blio­thek.

Als Re­ak­ti­on leg­ten die Kan­tons­be­hör­den rasch ei­nen bi­blio­the­ka­ri­schen Ei­fer an den Tag. Es ent­stand ein Kon­zept für die För­de­rung der re­gio­na­len Bi­blio­the­ken so­wie das ehr­gei­zi­ge Pro­jekt der «Neu­en Bi­blio­thek St.Gal­len», ei­ner zeit­ge­mäs­sen «pu­blic li­bra­ry» in der Kan­tons­haupt­stadt. An­ge­dacht war die Fu­si­on von Kan­tons-, städ­ti­scher Frei­hand- so­wie der Frau­en­bi­blio­thek Wy­bora­da im Haupt­post­ge­bäu­de oder an­ders­wo an zen­tra­ler La­ge.

Doch An­fang 2011 trat der Re­gie­rungs­rat auf die Brem­se. Es kön­ne nicht sein, dass so viel Geld in ein Pro­jekt in­ves­tiert wer­de, wenn gleich­zei­tig kan­to­na­le Spar­pa­ke­te ge­schnürt wür­den, hiess es vom da­ma­li­gen Fi­nanz­di­rek­tor Mar­tin Geh­rer (CVP). Die bür­ger­li­che Mehr­heit im Kan­tons­rat folg­te dem Spar­ent­scheid der Re­gie­rung. Die Auf­bruch­stim­mung im St. Gal­ler Bi­blio­theks­we­sen war pul­ve­ri­siert – zu­min­dest für kur­ze Zeit.

Ba­sis­be­we­gung ge­gen die Spar­po­li­tik

In der Fol­ge äus­ser­ten schwei­ze­ri­sche Bi­blio­theks­ver­bän­de in ei­ner ge­mein­sa­men Me­di­en­mit­tei­lung ihr Be­dau­ern über das Schei­tern der Neu­en Bi­blio­thek St.Gal­len. SP-Stän­de­rat Paul Rech­stei­ner reg­te an, mit ei­ner Volks­in­itia­ti­ve Druck auf­zu­set­zen. Ei­ne Grup­pe aus der Zi­vil­be­völ­ke­rung um den St.Gal­ler Jour­na­lis­ten und His­to­ri­ker Ralph Hug, den da­ma­li­gen Sai­ten-Re­dak­tor Jo­han­nes Stie­ger, die Rap­pers­wi­ler Bi­blio­the­ka­rin Lu­cia Stu­de­rus Wid­mer und wei­te­re Per­so­nen lan­cier­te die In­itia­ti­ve «für zeit­ge­mäs­se Bi­blio­the­ken im Kan­ton St.Gal­len». Die­se for­der­te, dass der Kan­ton öf­fent­li­che Bi­blio­the­ken in al­len Re­gio­nen för­dert und an zen­tra­ler La­ge ei­ne kan­to­na­le Pu­bli­kums­bi­blio­thek führt. Die Ba­sis­be­we­gung war aus­drück­lich ei­ne Re­ak­ti­on auf die «bil­dungs- und kul­tur­feind­li­che» kan­to­na­le Spar­po­li­tik.

Und sie hat­te – auch dank ei­ner gut mo­bi­li­sie­ren­den Bi­blio­theks­land­schaft im Kan­ton – gros­sen Er­folg: Be­reits im Ja­nu­ar 2012 gin­gen bei der Kan­tons­kanz­lei 10’731 gül­ti­ge Un­ter­schrif­ten ein. Al­lein die über 4000 Un­ter­schrif­ten aus der Stadt St.Gal­len hät­ten für das Zu­stan­de­kom­men der In­itia­ti­ve ge­nügt. So sah sich die Re­gie­rung doch noch zum Han­deln ge­nö­tigt und prä­sen­tier­te be­reits ein hal­bes Jahr spä­ter als Ge­gen­vor­schlag den Ent­wurf zum St.Gal­ler Bi­blio­theks­ge­setz.

Der Ge­set­zes­ent­wurf nahm die we­sent­li­chen For­de­run­gen der In­iti­ant:in­nen auf und er­wei­ter­te die Vor­la­ge für öf­fent­li­che Bi­blio­the­ken um die Spar­te der wis­sen­schaft­li­chen Bi­blio­the­ken. Im Ver­gleich zur Volks­in­itia­ti­ve war die For­mu­lie­rung be­züg­lich der re­gio­na­len Bi­blio­theks­för­de­rung et­was zu­rück­hal­ten­der. Der Kan­ton be­fürch­te­te im Fal­le ei­ner zu er­war­ten­den An­nah­me der In­itia­ti­ve ho­he Kos­ten, wenn er flä­chen­de­ckend Re­gio­nal­bi­blio­the­ken hät­te för­dern müs­sen.

«Ge­mein­de­au­to­no­mie» heisst das Zau­ber­wort im Ring­kan­ton

Hand­kehrum zeig­te sich, dass mit dem Ge­gen­vor­schlag der Re­gie­rung die Ge­mein­den ih­rer­seits hö­he­re Aus­ga­ben be­fürch­te­ten, soll­te der Kan­ton ih­nen zu strik­te Vor­ga­ben im Be­reich der bi­blio­the­ka­ri­schen Grund­ver­sor­gung auf­er­le­gen. Die vor­be­ra­ten­de Kom­mis­si­on än­der­te den Ge­set­zes­ent­wurf zwar nur ge­ring­fü­gig ab, stimm­te ihm aber bloss mit 8:7 Stim­men zu.

Die Vor­la­ge blieb auch in der fol­gen­den Kan­tons­rats­de­bat­te um­strit­ten. Der da­ma­li­ge Kan­tons- und heu­ti­ge Re­gie­rungs­rat Beat Tin­ner be­an­trag­te in der No­vem­ber­ses­si­on 2012 na­mens der FDP-Frak­ti­on zwei An­pas­sun­gen, die zum ei­nen ei­ne stär­ke­re Be­to­nung der Ge­mein­de­au­to­no­mie und zum an­de­ren den Ver­zicht auf ei­ne Pflicht­ex­em­plar­ab­ga­be for­der­ten. Die für die Grund­ver­sor­gung haupt­ver­ant­wort­li­chen Ge­mein­den soll­ten «frei über Um­fang, Aus­ge­stal­tung so­wie Art und Wei­se der Auf­ga­ben­er­fül­lung» ent­schei­den kön­nen. Die­se An­pas­sung weck­te bei den Be­für­wor­ter:in­nen des Re­gie­rungs­vor­schlags die nicht ganz un­be­grün­de­te Be­fürch­tung, dass ei­ni­ge oder so­gar vie­le Ge­mein­den ih­ren Grund­ver­sor­gungs­auf­trag nur un­ge­nü­gend wahr­neh­men wür­den.

Die SP-Grü­ne-Frak­ti­on stell­te sich so­wohl hin­ter die Bi­blio­theks­in­itia­ti­ve als auch hin­ter den Ge­gen­vor­schlag der Re­gie­rung. GLP und CVP lehn­ten die In­itia­ti­ve ab, vo­tier­ten aber ge­schlos­sen und mit Nach­druck für das Bi­blio­theks­ge­setz. Die SVP ging er­war­tungs­ge­mäss in Fun­da­men­tal­op­po­si­ti­on. Bi­blio­theks­bau­ten für ge­druck­te Bü­cher sei­en nicht mehr zeit­ge­mäss, und ein so kost­spie­li­ges «Lu­xus­pro­jekt» wie die in St.Gal­len an­ge­dach­te «pu­blic li­bra­ry» so­wie­so. Es geis­te­re die Zahl von 100 Mil­lio­nen Fran­ken Bau­kos­ten her­um, hiess es bei der SVP, auch wenn die Re­gie­rung im­mer wie­der be­ton­te, die neue Bi­blio­thek wür­de nicht teu­rer als 70 Mil­lio­nen. (Stand heu­te wird so­gar mit 140 Mil­lio­nen ge­rech­net – mit ein Grund für die ak­tu­el­le Op­po­si­ti­on ge­gen die neue St.Gal­ler Bi­blio­thek.)

«Le­gis­la­to­ri­sche Pant­sche­rei»

Be­son­ders auf­ge­fal­len mit poin­tier­ten Aus­sa­gen pro Bi­blio­thek ist in der De­bat­te der Alt­stät­ter CVP-Kan­tons­rat Wer­ner Rit­ter-Son­der­eg­ger. Er wies dar­auf hin, dass im Kan­ton – ent­ge­gen der Be­haup­tun­gen der SVP – das Be­trei­ben ei­ner Bi­blio­thek sehr wohl als öf­fent­li­che Auf­ga­be an­ge­se­hen wer­de, und das schon «seit un­ge­fähr dem Jahr 800». Man ha­be auch viel von den Bi­blio­the­ken pro­fi­tiert: Va­di­an ha­be sei­ne Bü­cher­samm­lung der Stadt St.Gal­len ver­macht. Und nur weil die Tog­gen­bur­ger Ge­mein­nüt­zi­ge Ge­sell­schaft in Lich­ten­steig ei­ne Bi­blio­thek un­ter­hielt, ha­be Ul­rich Brä­ker welt­weit ge­se­hen noch grös­se­re Be­kannt­heit er­langt als To­ni Brun­ner. Den FDP-An­trag, die ver­fas­sungs­mäs­sig ga­ran­tier­te Ge­mein­de­au­to­no­mie auf Ge­set­zes­stu­fe noch­mals ex­tra zu be­to­nen, be­zeich­ne­te Rit­ter-Son­der­eg­ger als «le­gis­la­to­ri­sche Pant­sche­rei», die ein­zig da­zu die­ne, den Grund­satz, dass die Ge­mein­den bei der Grund­ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung die Haupt­ver­ant­wor­tung tra­gen, aus­zu­höh­len.

Die Stim­men der FDP- und der SVP-Frak­ti­on ver­hal­fen den FDP-An­trä­gen letzt­lich zum Durch­bruch. Das Bi­blio­theks­ge­setz wur­de in ih­rem Sinn an­ge­passt und fand so schliess­lich ei­ne Mehr­heit. Es wur­de in zwei­ter Le­sung mit 73:34 Stim­men an­ge­nom­men. Kurz dar­auf zo­gen die In­iti­ant:in­nen ih­re Bi­blio­theks­in­itia­ti­ve zu­rück. Ih­re For­de­run­gen sind im Grund­satz ins Ge­setz ein­ge­flos­sen. Das «ers­te mo­der­ne Bi­blio­theks­ge­setz der Schweiz», wie es der da­ma­li­ge Kan­tons- und heu­ti­ge Stifts­bi­blio­the­kar Cor­nel Do­ra in ei­nem Auf­satz be­zeich­ne­te, trat 2014 in Kraft.

Bei der dar­auf­fol­gen­den Aus­ar­bei­tung der kan­to­na­len Bi­blio­theks­stra­te­gie wa­ren so­wohl die Ge­mein­den als auch pri­va­te Bi­blio­theks­trä­ger­schaf­ten eng mit­ein­ge­bun­den. Ge­gen die Re­ge­lung, dass die re­gio­na­len Bi­blio­the­ken wohl für Bil­dungs- und ähn­li­che Pro­jek­te, nicht aber für in­fra­struk­tu­rel­le oder bau­li­che Vor­ha­ben kan­to­na­le För­der­gel­der be­an­tra­gen kön­nen, ha­be es kaum nen­nens­wer­te Op­po­si­ti­on ge­ge­ben, heisst es ge­gen­über Sai­ten aus gut in­for­mier­ten Krei­sen.

Dass die FDP jetzt im Zu­ge des Bi­blio­theks-Neu­bau­pro­jekts in St.Gal­len auf ei­ne stär­ke­re Be­rück­sich­ti­gung der Be­dürf­nis­se in den Re­gio­nen pocht, ist aus Sicht der Bi­blio­the­ken be­grüs­sens­wert. In der Kon­se­quenz hies­se das aber, dass das Bi­blio­theks­ge­setz an­ge­passt wer­den müss­te. Frag­lich ist, ob dies oh­ne Auf­sto­ckung des Bi­blio­theks­för­de­rungs­bud­gets rea­lis­tisch wä­re. Und ei­ne sol­che dürf­te es im bür­ger­li­chen Par­la­ment schwie­rig ha­ben.

Man könn­te an­ge­sichts der ak­tu­el­len St.Gal­ler Bi­blio­theks­de­bat­te den Ein­druck tei­len, den Wil­liam von Bas­ker­ville, Ecos de­tek­ti­vi­sche Ro­man­fi­gur, schil­dert: «Ich weiss, dass in St.Gal­len nur noch we­ni­ge Mön­che des Schrei­bens mäch­tig sind.» Das Bi­blio­theks­we­sen hat in St.Gal­len eben­so Tra­di­ti­on wie des­sen Ge­ring­schät­zung – zu­min­dest in Tei­len des bür­ger­li­chen Po­lit­spek­trums. Dass es heu­te zum Le­sen und Schrei­ben kei­ner Mön­che mehr be­darf, ist auch ein Ver­dienst des öf­fent­li­chen Bi­blio­theks­we­sens.