Gemeinsam im dunklen Saal
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Saiten: Cinéphile Nostalgie oder Revival der Kinokultur: Was war Ihr Antrieb für dieses Buch?
Sandra Walti: Seit bald 20 Jahren bin ich als Operatrice beim Kino Freier Film in Aarau tätig. In dieser Zeit bin ich viel herumgereist und habe spannende Einblicke in die Kinolandschaft erhalten. Mit dem Buch Rex, Roxy, Royal möchten wir aufzeigen, wie lebendig die Kinokultur in unserem Land ist. Zehn Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Regionen verfassten die Kinoporträts, die Bilder stammen alle von einem Fotografen und kommen aus einem Guss. Das Gestaltungskonzept erinnert an einen Reiseführer: Das Buch soll praktisch und lesefreundlich sein. Angaben, beispielweise zum Eröffnungsjahr oder zur Anzahl der Vorführungen und eine Kinokarte bieten eine Übersicht.
Von 273 Schweizer Kinos haben Sie 111 porträtiert. Wie kam die Auswahl zustande?
Wir haben Kinos ausgewählt, die durch ihre Programmation, Geschichte, Architektur oder durch ihre soziale Funktion herausragen. Uns ist wichtig, dass man die Leute spürt, die dahinter stehen. Dabei wollten wir uns nicht auf bestimmte Kategorien beschränken, sondern vielmehr die Vielfalt aufzeigen. Die Spannbreite zeigt das Kino in seinen Facetten – vom Spektakel bis zur Kunstform. Das reicht vom unabhängigen Landkino, wo für ein kleines Publikum weniger als 10 Filme pro Woche gezeigt werden, bis zum Multiplexkino Arena im Einkaufszentrum Sihlcity, das mit 450 bis 500 Vorführungen pro Woche reine Unterhaltung bietet, unter anderem mit dem Einsatz neuster technischer Effekte wie 4DX, wo neben Bild und Ton Düfte und rüttelnde Sitze beispielsweise ein Unwetter simulieren.
Sandra Walti und Tina Schmid: Rex, Roxy, Royal – Eine Reise durch die Schweizer Kinolandschaft. 360 Seiten, 101 farbige Abbildungen von Oliver Lang. Christoph Merian Verlag, Basel 2016. Fr. 39.–
Sie sprechen von der vielfältigen Kinokultur in unserem Land. Wie sieht es denn in den Nachbarländern aus?
Ich kenne die Kinolandschaft der Nachbarländer nicht im Detail, aber auf Reisen fällt mir auf, dass es weniger unabhängige Kinos gibt. In vielen kleineren Städten sind die Kinos mittlerweile geschlossen. In der Schweiz ist die Dichte auffällig hoch, obschon die wenigsten dieser Kinos profitabel sind. Hier sind viele Menschen in der privilegierten Situation, genug zu verdienen, um sich in der Freizeit für ihre Leidenschaft – in dem Fall das Kino – zu engagieren. Mit Prozessen der Digitalisierung gingen zwar einige Kinos zu, doch waren dies längst nicht so viele wie in den 80er-Jahren, als die VHS-Kassetten aufkamen. Und es gab viele Betriebe, die neue Wege der Finanzierung fanden und so überlebten – oder neu eröffnet wurden. Mit Veranstaltungen oder Crowdfunding wurden Gelder aufgetrieben, viele haben Vereine gegründet. Es gab auch Gemeinden, die die Wichtigkeit des lokalen Kinos für die Dorfgemeinschaft erkannten und Beiträge sprachen. Damit haben diese Kinos eine breite Basis, dank Freiwilligenarbeit ist sehr viel möglich.
Diese soziale Bedeutung des Kinos ist wohl eine Grund, warum trotz steigender Qualität von Heimkino-Anlagen und ständig wachsender Verfügbarkeit an Filmen mit Netflix & Co. die Kinokultur nach wie vor lebt?
Auf jeden Fall. Das Kino ist ein Ort, an dem man gemeinsam in andere Welten eintauchen kann; wo man bekannte und unbekannte Menschen trifft, die sich für denselben Film interessieren. Gemeinsam in einem dunklen Saal zu sitzen, das Knistern der Popkorntüte oder ein Lacher von nebenan zu vernehmen, ist interessanter als alleine zuhause einen Film zu schauen. Das kann auch der grösste und schärfste Bildschirm in der Wohnstube nicht ersetzen. Gerade in Dörfern ist das Kino ein Treffpunkt, wo verschiedene Generationen zusammenkommen.
Buchvernissage: 1. Dezember, 20.15 Uhr, Kino Roxy Romanshorn, mit Co-Autor Marcel Elsener, Andrea Röst, Vreni Schawalder und den Herausgeberinnen. Anschliessend: La petite dame du Capitole, Filmporträt von Lucienne Schnegg, der legendären Leiterin des Cinéma Capitole in Lausanne.
Ein Treffpunkt, der auch ein Ort der Vermittlung von Filmkultur ist.
Genau! Relativ viele Kinos in der Schweiz pflegen diesen direkten Austausch zwischen Filmschaffenden und dem Publikum, mit Regisseurgesprächen und Podiumsdiskussionen. Und wenn wir von Vermittlung sprechen: Ich persönlich habe viel gelernt im Kino Freier Film in Aarau oder auch im Filmpodium Zürich. Noch immer sind zahlreiche Filme jenseits des Mainstream für den Privatgebrauch nicht erhältlich. Da ist es eine einmalige Gelegenheit, diese im Kino zu schauen. Und: Mir haben diese kuratierten Programme neue Welten eröffnet, durch die ich Filmschaffen aus anderen Ländern entdeckt und Regisseure und Regisseurinnen kennengelernt habe, von denen ich nie zuvor gehört hatte. Ich denke, dass dies auch in einer Zeit nie dagewesener Verfügbarkeit von Filmen, Büchern etc. ein wichtiger Faktor ist. Andere treffen eine Auswahl für mich und bieten mir ein vielfältiges Filmprogramm. Darum hat meiner Meinung nach auch das «cinema on demand», bei dem die Leute den Film im Kino wählen können, nicht sehr gut funktioniert. Das ist zwar eine gute Idee, doch letztlich scheitert sie daran, dass man im Voraus planen und genügend Leute mobilisieren muss. Das schöne am Kinobesuch ist das Spontane. Und: Zuhause lasse ich mich leicht ablenken, beantworte noch rasch eine SMS … Im Kino muss ich mich voll auf das Filmerlebnis einlassen. In langsam erzählten Filmen kann dies auch mal eine Qual sein, die es auszuhalten gibt. Das immer mal wieder zu erleben schätze ich sehr.
Rex, Roxy, Royal ist also viel mehr als ein Abgesang auf vergangene Glanzzeiten des Kinos – eine Statement für eine lebendige Kinokultur?
Genau. Neue Formen werden ausprobiert, junge Menschen mischen die Szene auf, das Kino lebt. Deshalb auch der Blick in die ganze Schweiz, wo jenseits der Sprachgrenzen neue Projekte starteten oder architektonisch grossartige Säle zu entdecken sind, wie etwa das Le Capitole in Lausanne oder das Corso in Lugano. Vermutlich wird das Kino überdauern, genauso wie es immer noch Theater gibt und auch die Malerei mit dem Einzug der Fotografie zwar in die Krise geriet, aber keineswegs verschwand. Das Buch ist eine Einladung zu einer Entdeckungsreise in diese Kinowelt: Es lohnt sich, für einmal an unbekannten Orten den Kinos einen Besuch abzustatten.
Die «glorreichen Zehn» in der Ostschweiz:
In Rex, Roxy, Royal sind zahlreiche Ostschweizer Kinos vertreten, porträtiert von Marcel Elsener. Darunter sind Filmspielstätten, die sich durch besondere Architektur hervorheben, wie das Frauenfelder Luna, ein von Staufer & Hasler gestalteter grossstädtischer Betonbau, oder das Scala in Schaffhausen, bei dem Max Bill und Jugendstil zusammentreffen und ein original Kassenhäuschen aus den dreissiger Jahren zu bestaunen ist.
Gewürdigt werden auch Kinos, die mit dem Filmbetrieb ungenutzte Flächen neu bespielen, wie das Roxy auf dem Hafenareal Romanshorns oder das jüngst eröffnete Kino Cameo auf dem ehemaligen Sulzerareal in Winterthur.
Zu finden sind weiter Kinos, die in geschichtsträchtigen Gebäuden untergebracht sind, so das nostalgische Schwanen in Stein am Rhein: Der Riegelbau wurde zu einem sicheren Wert für Filmkultur und vom Schaffhauser Schauspieler Mathias Gnädinger bis zu seinem Tod unterstützt. Nicht fehlen dürfen das Schlosskino in der Rapperswiler Altstadt, eines der ältesten Lichtspielhäuser der Schweiz, das St.Galler Programmkino Kinok, das 2010 in der Lokremise am Hauptbahnhof eine neue Heimat fand, und das Heidener Dorfkino Rosental mit seinem 50er-Jahre-Charme.
Dass Kinokultur auch auf dem Land blühen kann, zeigt sich nicht nur im Rosental, sondern auch beim einst vom Abriss bedrohte Kinotheater Madlen in Heerbrugg, welches dank Blockbustern, regionalen Studiofilmen sowie Bühnen-Shows wiederbelebt wurde, und dem Kino Passerelle in Wattwil, das 2015 den Anerkennungspreis der St.Gallischen Kulturstiftung erhielt. Detaillierte Infos zu den Ostschweizer Kinos finden sich auf den Seiten 262 bis 285 im Buch.
Dieser Beitrag erschien in einer gekürzten Fassung im Novemberheft von Saiten.