Geld und Zeit für kreativen Effort
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Thomas Kuratli ist in Goldach aufgewachsen und lebt heute in Paris. Nächstes Jahr wird der 30jährige Musiker, Filmemacher und Videokünstler drei Monate in Berlin verbringen, um fern des gewohnten Umfelds sein künstlerisches Schaffen weiterzuentwickeln. Mit seinem Field-Recorder will er in den Berliner Musik-Untergrund abtauchen, seinen Vorbildern der elektronischen Musik auf die Spur kommen und jene Orte aufsuchen, wo die aktuellen Techno- und Ambient-Sounds entstehen.
Den Schlüssel für die Atelierwohnung hat Thomas Kuratli, der unter anderem den Soundtrack für den preisgekrönten Schweizer Film Blue My Mind geschrieben hat, am Montagabend an der Übergabe der Werkbeiträge des Kantons St.Gallen von Regierungsrat Martin Klöti symbolisch in Form eines Stadtführers bekommen. Die Fachjury war begeistert von Thomas Kuratlis «radikaler Schaffenskraft». Berlin sei existenziell für sein Schaffen und seine Person, hiess es in der Laudatio.
Aus der Spar-Not geboren
Den dreimonatigen Aufenthalt in Berlin hatte der Kanton St.Gallen in diesem Jahr erstmals ausgeschrieben. Bisher gab es lediglich die Atelierwohnung in Rom, für die sich St.Galler Kunstschaffende bewerben konnten. Dass hiesige Künstlerinnen und Künstler nun auch in Berlin eine Wohnung nutzen können, ist der Kooperation des Kantons St.Gallen mit dem Fürstentum Liechtenstein und dem Kanton Graubünden zu verdanken.
Diese Zusammenarbeit über die Kantonsgrenze hinaus kam zustande, weil 2013 die Vergabe der Rom-Wohnung auf der Kippe stand. Der Kantonsrat hatte damals die Beiträge an die Wohnung in der italienischen Hauptstadt im Rahmen eines umfassenden Sparprogramms gestrichen. Daraufhin gründeten drei Kulturliebhaber den Verein «Freunde Kulturwohnung Rom» und übernahmen vorübergehend die Mietkosten. Diese private Zwischenfinanzierung läuft Ende 2018 aus.
Das Amt für Kultur musste nach einer neuen Lösung für die Finanzierung der Atelierwohnung suchen und fand sie in der überkantonalen Kooperation. Die Wohnung im Römer San Lorenzo-Quartier wird in einem zweijährigen Turnus gemeinsam mit dem Kanton Graubünden und dem Fürstentum Liechtenstein ausgeschrieben. Als Gegenleistung seitens Liechtenstein kann die St.Galler Kulturförderung jedes zweite Jahr für drei Monate die Wohnung in Berlin anbieten. Graubünden zahlt für die sechsmonatige Nutzung der Rom-Wohnung einen entsprechenden Beitrag.
Tapeten aus dem verrückten Rom
Die Atelierwohnung in Rom stand in den letzten 20 Jahren 80 Kunstschaffenden zur Verfügung. Nächstes Jahr zieht die Jung-Designerin Annina Arter für drei Monate ein. Die St.Gallerin, die derzeit in Zürich lebt, arbeitete während mehreren Jahren für das Textilunternehmen Jakob Schlaepfer. Mittlerweile hat sie sich selbstständig gemacht. In der italienischen Hauptstadt wird sie nun eine neue Tapetenkollektion entwickeln – unter dem Namen Il muro pazzo.
Annina Arter gehe von vier verschiedenen Stilen römischer Wandmalereien aus und werde das aktuelle, leicht verrückte Leben Roms in ihre Arbeit einfliessen lassen, erläuterte die Jury das Vorhaben der jungen Designerin. Kulturminister Martin Klöti, der die Wohnung in Rom kennt, sagte mit einem Augenzwinkern: «Ich hoffe, dass die Wohnung Sie so herausfordert, dass sie Sie zum Tapezieren verleitet.»
Eine ungewisse, aber spannende Reise
Nebst den symbolischen Schlüsseln für die beiden Atelierwohnungen sind an diesem Abend auch Werkbeiträge im Gesamtwert von 260 000 Franken vergeben worden. 14 Kunstschaffende aus sechs verschiedenen Sparten haben sie bekommen. Für Martin Klöti ist dies die «spannendste Form von Unterstützung». Beide Seiten wüssten nie so genau, wo die Reise hinführe, sagte er, aber irgendwann werde es etwas zu sehen geben – und darauf dürfe man sehr gespannt sein.
Die finanzielle Unterstützung durch den Kanton soll den Künstlerinnen und Künstlern den nötigen Freiraum geben, ihre Ideen, Vorhaben und Werke auszuarbeiten und ihre künstlerische Tätigkeit insgesamt weiterzuentwickeln.
Global und lokal
In der Sparte Angewandte Kunst und Design werden der St.Galler Andreas Bechtiger für sein neuartiges Steck-Regal Chopstick, die St.Galler «Gaffa-Boys» Dario Forlin, Wanja Harb, Linus Lutz und Lucian Kunz für ihr unabhängiges Gaffa-Magazin und die Designerin Christa Bösch aus Stein SG für ihr international erfolgreiches Mode-Label Ottolinger mit je einem Werkbeitrag unterstützt.
Bei der Bildenden Kunst bekommen Regula Engeler (wohnhaft in Gais, aufgewachsen in St.Gallen) für ihr langfristig angelegtes Lochkamera-Fotografie-Projekt Sea of Change, Georg Gatsas (Zürich/Grabs) für seine neue Serie von Porträts, Landschaftsaufnahmen und Stimmungsbildern Global Sounds/Changing Environments (How we live now) sowie Ilona Ruegg (Zürich/Rapperswil) für ihre Dekonstruktion eines Raumes Staccato und Urs August Steiner (Zürich/Kaltbrunn) für seine Recherche zu Der Wilden Westen und das Ewige, an der Schnittstelle von Science-Fiction-Utopie und Realität, einen finanziellen Zustupf.
In der Sparte Geschichte und Gedächtnis erhalten Fotograf Florian Bachmann (Zürich/St.Gallen) für sein Projekt Gesammelte Orte – lieu de mémoire sowie die langjährige Leiterin des St.Galler Frauenarchivs Marina Widmer (St.Gallen) für die Aufarbeitung von 50 Jahren Frauenstimmrecht in der Schweiz je einen Werkbeitrag – mehr zur Frauenforschung im kommenden Juli-Augustheft von Saiten.
Im Bereich Literatur haben Anna Bischofberger, die sich als Autorin Anna Stern nennt (Zürich/Rorschach), mit ihrem dritten Romanprojekt Denn du bist wild wie die Wellen des Meeres sowie Christoph Keller (NewYork/St.Gallen) mit seinem Romanprojekt Der Osten die Fachjury überzeugt. Und in der Musik waren es Vanessa Engensperger (St.Gallen) mit Hopes & Venom und Stefan Baumann (Teufen/Toggenburg) mit seinem Klangwald 2.0. Für die erste Entwicklung ihres Zweitlingswerk bekommt Livia Rita Heim (London/Nesslau) in der Sparte Theater/Tanz finanzielle Unterstützung vom Kanton.
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Von links/hinten: Wanja Harb, Dario Forlin, Lucian Kunz, Georg Gatsas, Urs August Steiner, Andreas Bechtiger, Regula Engeler, Florian Bachmann, Thomas Kuratli, Marina Widmer, Annina Arter, Livia Rita Heim, Anna Bischofberger, Ilona Ruegg, Regierungsrat Martin Klöti. Von links/vorne: Linus Lutz, Christoph Keller, Vanessa Engenperger, Stefan Baumann (Bild: Patrick Froidevaux)