Tatort Stiftsbibliothek
Geraldine Searles hat ein Flair für alte Gemäuer und unheimliche Geschichten. Novacastria heisst ein früheres Werk der australischen Künstlerin. Es hat seinen Ausgangspunkt in den Mauern der spanischen Stadt Granada, reisst von dort aus explosive Löcher in Zeit und Raum und schlägt einen dramatischen Bogen (gezeichnet wortwörtlich als Geigen-Bogen) in eine düstere Unterwelt am anderen Ende der Erdkugel.
Die gestalterische Form von «Novacastria» war streng: Panels mit vier mal drei Bildern, insgesamt zwölf quadratische Szenen pro Seite, jeweils mit einem zweizeiligen Text unterlegt. Vorbild dafür war, wie Geraldine Searles erläutert, ein althergebrachtes volkstümliches Genre aus Katalonien, genannt «auca». Die Auques, zumeist mit 48 Bildern, erzählen historische oder erfundene Geschichten, es gibt sie seit dem 17. Jahrhundert: ein Comic-Vorläufer, der es der Künstlerin angetan hat.

Geraldine Searles in ihrer Ausstellung mit dem Original von Novacastria, Mitte Mai im Atelier von Marlies Pekarek in St.Gallen.
Mit dieser Graphic Novel hat Searles vor einigen Jahren einen der wichtigsten Literaturpreise Australiens gewonnen, und dies nicht in einer speziellen Comic-Sparte, sondern in der Belletristik. Eine Freude und Ehre, sagt sie im Gespräch – und ein Indiz dafür, dass die Jury ihre Art des gezeichneten Erzählens als literarische Kunst wahrgenommen habe.
Jetzt ist die St.Galler Stiftsbibliothek Inspirationsort für Searles geworden. Zu verdanken ist dies ihrer langjährigen Freundschaft mit der St.Galler Künstlerin Marlies Pekarek. Pekarek hat schon früher eine Arbeit mit dem Titel «A Sugar Queen’s Journey» mit Searles gemeinsam entwickelt. Jetzt hat sie die Australierin nach St.Gallen eingeladen zu einer gemeinsamen «Residenz» im Atelier in der Hauptpost, zusammen mit zwei weiteren Kolleginnen, Huda Lutfi aus Ägypten und Primarosa Cesarini Sforza aus Italien.
Dank der St.Galler Connection ist Searles auf die Stiftsbibliothek gekommen; diese sei «beautiful and mysterious» – und damit der ideale Ort, um ihre erzählerische Fantasie in Gang zu bringen..
Das Ergebnis heisst The Emerald Tablet. Es erzählt die Geschichte eines Forschers, der in St.Gallen auf der Spur von Handschriften über die Sintflut und andere Katastrophen ist. Eine zentrale Rolle spielt eine der berühmtesten hermetischen Schriften aus dem frühen Mittelalter, die titelgebende «tabula smaragdina». Das Original sei angeblich von Papst Sylvester II. aus der Bibliothek in Cordoba entwendet worden, heisst es in der Graphic Novel. Wie auch immer: Jedenfalls verschwinden kurz nach den ersten Recherchen sowohl Handschriften als auch der Bibliothekar.
The Emerald Tablet, Graphic Novel von Geraldine Searles. Vernissage: Mo 27. Mai 18 Uhr, Stiftsbibliothek St.Gallen
Konzipiert ist die ganze Geschichte als Trilogie. Deren erster Teil ist aus dem Englischen von Florian Vetsch ins Deutsche übersetzt worden und liegt fertig gedruckt vor. Er wird an diesem Montag präsentiert. Fortsetzung folgt; sie habe die vollständige Story im Kopf, sagt Geraldine Searles. Vieles ist auch bereits fertig gezeichnet, aber verraten will sie nicht, wie das Drama um Mann und Manuskript ausgeht.