Gegen die Schwerkraft, für die Zeit

Wer im La Buena Onda sitzt und gegenüber auf die Lämmlisbrunnenstrasse schaut, wird früher oder später am Kiosk des linken der beiden Otto Glaus-Hochhäuser hängen bleiben. Aus dem ursprünglichen Schriftzug «Zeitungen Cigaretten» wurde «Zeit» und «retten», weiss hervorgehoben.
Die Kioskinhalte sind schon eine Weile nicht mehr dort, aber seine Zeit als Treff- und Blickpunkt wurde 2016 auf eine unbestimmt lange Zukunft tatsächlich gerettet: Die Künstlerin Jiajia Zhang, die damals in der achten Etage des besagten Hauses wohnte, hat ihn in jenem September übernommen.
Der offizielle Name des Raumes ist seither 印, ein chinesisches Schriftzeichen, das soviel wie «drucken» bedeutet. Es kann jedoch auch als EP gelesen werden, eine Kurzform für Extended Play oder Episode. Diese Doppelbedeutung ist eine Reverenz an das Chinatown in New York City, wo ein Raum mit dem gleichen Namen existiert.
EP ist kein klassischer Ausstellungsraum. Sein Standort als Teil eines Wohnhauses spielt immer auch eine Rolle, die Themen Wohnen und Privatheit sowie das ungefähre Gegenteil davon – weltweites Unterwegssein und Ortlosigkeit – sind die thematischen Grundbausteine der EP-Kuratierung. Doppeldeutig ist also nicht nur Name, sondern auch Programm.
Auch die seit dem 20. September laufende Ausstellung «Plots against Gravity» befasst sich damit. In vier nacheinander erschienenen Plots wurden Geschichten aus unterschiedlichsten Winkeln der Welt gesammelt und fanden im Aquarium-artigen EP-Fenster Asyl.
Plot Nr. 1, The Immigrants Plot ist eine Uhr für Einwanderer und läuft gegen den Uhrzeigersinn. Sie ist von Nobutaka Aozaki. Plot Nr. 2, The Dystopian Plot zeigt eine wässrige Leonardo-Zeichnung und ist gepaart mit einer theatralischen Lesung von Mark von Schlegell und Ellen Yeon Kim. Plot Nr. 3, The Turtle’s Plot besteht aus einem Schildkrötenbild und einem luftigen Monolog aus einem malaysischen Strandresort. Kah Bee Chow hat sie geschaffen.
Und Plot Nr. 4, The Passerby’s Plot vereint einen Druck von Moyra Davey und persönliche Geschichten von ausgewählten Autoren und den Bewohnern des Gebäudes.
Die Hörbeiträge sind dank QR-Codes am Fenster einfach per Smartphone zu erreichen. Und ein Blick ins Innere beim Vorbeigehen oder Gegenübersitzen lohnt sich zu jeder Zeit, denn Fragen nach Schicksalen im riesigen Zusammenspiel von Zeit und Ort werden nie aufhören, mysteriös und interessant zu sein. Hier wird ihnen – zumindest temporär – ein Zuhause geboten.
Momentan lebt Jiajia Zhang für fünf Monate zusammen mit Jiri Makovec im SWB Experimenthaus an der Westbühlstrasse 59 in Zürich. Auch dort werden sie sich mit dem Ort und der Frage des Wohnens an sich auseinandersetzen. Dreimal wird dazu ein öffentlicher Salon vor Ort veranstaltet.