Gebündelte Sonne

Mit der Sonne hat die Menschheit ein schier unerschöpfliches Kraftwerk direkt vor ihrer Nase. Bis die Solarenergie aber einmal einen substanziellen Teil der städtischen Energieversorgung stemmen kann, ist es noch ein weiter Weg. Mit gemeinschaftlich gebauten Photovoltaik-Anlagen können auch Personen ohne Hauseigentum zur Energiewende beitragen. von Emil Keller
Von  Gastbeitrag
Sonnenpotenzial voll genutzt. (Bilder: Till Forrer)

Brach und unbebaut lagen die meisten St.Galler Dächer vor rund zehn Jahren noch da. Atomenergie verlor damals nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima ihren Status als potenzielle Heilsbringerin in der Energiewende und der Fokus richtete sich auf erneuerbare Energien.

Viel wurde über die verschiedenen Möglichkeiten geredet, sich von den fossilen Energiequellen zu lösen. Produziert wurde dabei vorerst heisse Luft, während die Sonne weiterhin als Kraftwerk vor aller Augen ihre schier unerschöpfliche Energie auf die Erde sandte. Ein Umstand, an dem Mathias Moser etwas ändern wollte. Als Mieter ohne eigenes Eigentum hatte der Elektroingenieur bereits überall, wo es ihm möglich war, Photovoltaik-Anlagen realisiert. Die Schreinerei seines Bruders und auch das Haus seiner Eltern lieferten Sonnenenergie. Alleine weitere Flächen zu erschliessen war schwierig, und so gründete Moser zusammen mit der heutigen GLP-Stadträtin Sonja Lüthi als Präsidentin und weiteren Mitstreiter:innen 2012 die Genossenschaft Solar St.Gallen.

Ihr Ziel: Auch Mieter:innen eine Möglichkeit geben, die Energiewende weiterzubringen. So machte sich die auch heute noch ehrenamtlich arbeitende Verwaltung der Genossenschaft auf die Suche nach geeigneten Flächen und vor allem dem dafür nötigen Geld, um neue PV-Anlagen zu realisieren. Ein passendes Dach zu finden, war vor zehn Jahren noch einfacher als heute, Solaranlagen wurden damals nur von wenigen als lohnende Investition angesehen. Für die finanziellen Mittel gab die Genossenschaft damals Anteilscheine zu je 1000 Franken heraus.

So brachten die Genossenschafter:innen rund 170ʼ000 Franken zusammen, um die Planung ihrer ersten PV-Anlage mit knapp 70 Kilowatt-Peak in Angriff zu nehmen. Heute betreut die Genossenschaft elf Anlagen und sorgt vorwiegend im Raum St.Gallen für die nötigen Unterhaltsarbeiten. 168 Genossenschafterinnen und Genossenschafter sorgen durch ihren Anteilschein dafür, dass sich das Kapital der Genossenschaft mittlerweile auf 1,3 Millionen Franken beläuft. Mit dem Geld haben sie so viele Solarmodule aufgestellt, um über das Jahr 700 Haushalte mit Strom versorgen zu können. Die kleinste Anlage liefert vom Kirchgemeindehaus in Wittenbach rund 30 Kilowatt, die grösste beliefert die Werke von Stadler Rail in St.Margrethen mit über 1100 Kilowatt.

Begehrte Ernteflächen

Der Wind in Sachen erneuerbare Energien hat sich über die Jahre spürbar gedreht. Solarenergie steht sowohl politisch als auch gesellschaftlich im Rampenlicht. Überall schiessen Gerüste in die Höhe und kraxeln Solateur:innen mit Sonnenkollektoren über Einfamilienhäuser und Fabriken. «Heute wird bei praktisch jedem grösseren Neubau eine Solaranlage mit eingeplant», erzählt Mathias Moser, der mittlerweile das Präsidium von Lüthi übernommen hat.

Die Genossenschaft Solar St.Gallen hält derweil weiter Ausschau nach weissen Flecken auf St.Galler Dächern, um sie schwarz zu täfeln. Nicht selten ist die Genossenschaft jedoch mit ihrer Idee für eine neue Anlage nicht allein am Platz. «Immobilienfirmen und Investor:innen haben Solaranlagen als rentablen Business Case entdeckt», erklärt Moser das Gerangel um lukrative Ernteflächen für Solarenergie. Ein Umstand, den Moser jedoch mit Freuden sieht: «Für uns geht es im Endeffekt darum, dass überall, wo es Sinn macht, eine Anlage zu stehen kommt. Da ziehen wir uns gerne zurück, wenn schon andere Interessent:innen bauen möchten.» Doch nicht jedes Dach ist gleich attraktiv. Je nach Beschaffenheit, Grösse und Schattenwurf rechnet sich eine Anlage mal mehr, mal weniger. «Wir springen dort ein, wo es sich für andere nicht mehr lohnt oder die Hürden mit Startkapital und Planung zu hoch sind», erklärt Moser.

Sonnenpotenzial halbwegs genutzt.

Verlustgeschäfte geht die Genossenschaft dabei keine ein, doch sind die Gewinnerwartungen viel tiefer als bei privaten Firmen. Die Genossenschafter:innen erhalten Ende Jahre zwei Prozent Rendite auf ihre 1000 Franken teuren Anteilscheine. Was also einst aus reinem Idealismus gekauft wurde, hat sich bei den derzeit tiefen Sparzinsen zu einer sinnvollen Geldanlage gemausert.

Vom Dach direkt in die Druckerpresse

Die neueste Anlage der Genossenschaft Solar St.Gallen entsteht derzeit auf dem Dach der Niedermann Druck AG, wo auch Saiten gedruckt wird. Sie ist ein Paradebeispiel für einen Fall, in dem die Genossenschaft als Investorin in die Bresche springt. Bereits beim Bau der neuen Druckerei an der Letzistrasse hatte Geschäftsleiter Gallus Niedermann eine PV-Anlage angedacht. «Die Bank bewilligte den damit verbundenen höheren Kredit jedoch nicht», erinnert sich Niedermann. Zusammen mit dem Architekten bereitete man beim Bau mit Kabelkanälen und Schrägen jedoch schon alles so vor, damit eine Anlage zu einem später Zeitpunkt ohne Probleme installiert werden könnte.

Dieser Zeitpunkt kam jedoch nicht: Für Niedermann standen andere Investitionen, welche für das Kerngeschäft der Druckerzeugnisse relevanter waren, im Vordergrund. Die rund 70ʼ000 Franken Investitionskosten sind für das Unternehmen, das in dritter Generation geführt wird, kein Pappenstiel. Zumal eine PV-Anlage Jahre bis Jahrzehnte braucht, um ihr Geld wieder hereinzuholen.

«Eine Investition muss sich in erster Linie rentieren, damit wir die rund 30 Arbeitsplätze halten können. Da sind wir aus der Wirtschaft sicher nicht immer die einfachsten Diskussionspartner», sagt Niedermann. Von Seiten seiner Kund:innen, wie etwa auch dem Saiten-Magazin, wurde immer wieder der Wunsch geäussert, grüner zu produzieren. So suchte der Geschäftsleiter weiter nach Lösungen, um die rund 1000 Quadratmeter Fläche auf dem Dach zu nutzen. Eine Option war, das Dach an eine Solarfirma zu vermieten: Die dafür knapp 1000 Franken jährliche Entschädigung waren ihm das bauliche Risiko jedoch nicht wert. «Am Ende habe ich noch Mehrkosten, weil beim Bau das Dach beschädigt wird», so Niedermann.

Eine andere Option bestand darin, teureren Ökostrom einzukaufen. Eine undurchsichtige Angelegenheit für Niedermann, der auch bei FSC-zertifiziertem Papier immer Vorsicht walten lässt und genau hinschaut, was eigentlich im Endprodukt drinsteckt. «Durch meine Steckdosen wäre ja teilweise immer noch Atomstrom gekommen, nur dass dafür halt irgendwo Zertifikate gekauft worden wären.»

Eine sympathische Lösung fand er schliesslich in der Genossenschaft Solar St.Gallen. Diese übernimmt nun die Planung, Bewilligung und den Bau der Anlage. Der Strom wird kaum ins städtische Netz eingespeist, sondern hauptsächlich direkt von der Druckerei abgenommen. Damit kann Niedermann ohne Mehrkosten etwa einen Drittel des Strombedarfs der Produktion decken.

Mit der Genossenschaft wurde dafür über 25 Jahre ein fester Stromtarif vereinbart, der auf dem jetzigen Niveau der Stadtwerke liegt. Dies gibt sowohl der Solar Genossenschaft als auch der Druckerei Planungssicherheit, was die Anlage angeht. «Jetzt habe ich ein gutes Gefühl, das Richtige getan zu haben. Wir sehen direkt, wo unser Strom herkommt, und haben gleichzeitig einen Schritt in Richtung unabhängiger Produktion getan», zeigt sich Niedermann zufrieden mit der gefundenen Lösung.

Sehen, wo der Strom herkommt

Diesen direkten Bezug zwischen ihren Kund:innen und ihren Energieträgern versuchen auch die St. Galler Stadtwerke (sgsw) herzustellen. Seit über 20 Jahren handeln sie mit Ökostrom. Mit dem «St.Galler Strom Öko Plus»-Angebot besteht für die Kund:innen die Möglichkeit, ihren Strom komplett aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Die Nachfrage bei diesem Produkt bewegt sich jedoch immer noch auf relativ tiefem Niveau. «Die Hürde scheint dabei weniger der höhere Preis zu sein, sondern vielmehr der Aufwand, sich aktiv für ein anderes Stromprodukt zu entscheiden», beobachtet Peter Graf, Bereichsleiter für Energie, Verkauf und Marketing bei den sgsw.

Potenzial verschenkt.

Um den Anteil an Solarstrom in der Stadt zu fördern und gleichzeitig auch Mieter:innen die Möglichkeit zu geben, an der Energiewende teilzuhaben, suchten die Stadtwerke zusammen mit der Universität St.Gallen nach neuen Formen der Energievermarktung. Die einleuchtendste Idee lief auf eine Art Bürgerkraftwerk hinaus, in dem gemeinschaftlich Solarstrom produziert wird.

Mit dem Angebot der Solar-Community schufen die Stadtwerke 2019 die Möglichkeit, einzelne Solarpaneele zu erwerben. Über eine entsprechende Website kann die PV-Anlage auf dem Dach der Eishalle Lerchenfeld eingesehen und können die noch freien Solarmodule erworben werden. Den einzelnen Paneelen kann sogar ein eigener Name verpasst werden. 280 Franken kosten diese mittlerweile – dafür erhält man bis ins Jahr 2040 jeweils einen fixen Betrag an selbst erzeugtem Strom auf seiner Rechnung gutgeschrieben. Die jeweils 100 Kilowattstunden Strom, welche ein Modul über das Jahr erzeugt, decken dabei für 16 Tage den Strombedarf einer Einzelperson ab.

Von selbst verkaufen sich die Module aber nicht: «Es steckt immer noch ein erheblicher Vermittlungsaufwand dahinter, damit das Angebot genutzt wird», so Graf. Der Bereichsleiter ist dennoch zufrieden mit dem Fortgang des Projekts. Mittlerweile sind rund drei Viertel der 3333 Solarkollektoren auf der Eishalle Lerchenfeld verkauft. Den Stadtwerken war es wichtig, ein Dach zu wählen, das viele kennen und das gleichzeitig der Gemeinschaft gehört. «Dadurch entsteht auch für Mieter:innen ein viel direkterer Bezug zu den eigenen Energiequellen», erklärt Graf den Standort.

Als Motivation hinter der Solar-Community steht nicht zuletzt das Energiekonzept 2050 der Stadt St.Gallen. Dieses sieht vor, einen beträchtlichen Teil des städtischen Energiehungers mit Solarstrom zu sättigen. «Ein ambitioniertes, aber nicht unrealistisches Ziel», so Graf. Genügend Flächen gibt es jedenfalls: Das Potential auf den St.Galler Dächern beträgt 250 Megawatt. Das im Energiekonzept angestrebte Ziel von 150 Megawatt im Jahr 2050 sollte damit gut erreicht werden.

Zum Vergleich: Am kältesten Tag im Jahr benötigt die Stadt St.Gallen heute 94 Megawatt; die heute installierte PV-Leistung beläuft sich auf rund 14 Megawatt. Damit also ein substanzieller Teil der Stromversorgung von der Sonne kommt, müssten noch zehn bis zwölfmal so viele Anlagen wie heute bereits vorhanden gebaut werden.

Etwa ein Drittel davon wollen die Stadtwerke selbst bauen, sei dies auf stadteigenen Liegenschaften, bei Wohnbauten oder bei Gewerbe- und Industriegebäuden, beim Rest ist die Stadt auf private Investor:innen angewiesen, die Solarstrom liefern. «Nur als Gemeinschaft kann die Transformation der Energieversorgung gemeistert werden», so Graf. Dabei spielt auch die Solar-Community eine Rolle. Sobald das Feld auf dem Lerchenfeld voll ist, wollen die Stadtwerke nach einer neuen Fläche Ausschau halten.

Strom verbrauchen, wo er anfällt

Einen direkten Bezug zwischen Verbrauchenden und ihrer Energiequelle herzustellen, sieht Danielle Griego als essenziell für die anstehende Energiewende an. Die ETH-Forscherin hat sich in ihrer Doktorarbeit intensiv mit den Vor- und Nachteilen von gemeinschaftlich genutzten PV-Anlagen auseinandergesetzt. Sie kommt zum Schluss: Nicht nur bieten grössere, gemeinschaftlich aufgestellte Anlagen positive Skaleneffekte, die sich in einem tieferen Strompreis niederschlagen, auch helfen sie, Strom gleich dort zu verbrauchen, wo er produziert wird.

«Wenn nicht nur Mehrfamilienhäuser, sondern auch Schulen und Büros alle an den gleichen Anlagen hängen, kann die Lastenverteilung über den Tag viel besser gehandhabt werden», erklärt Griego. Speziell die Schweiz mit ihren vielen gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen sei prädestiniert für Anlagen, welche ganze Quartiere versorgen könnten.

Photovoltaik-Angebote der sgsw:

Wer selbst ein noch unbebautes Dach hat, dem helfen die St.Galler Stadtwerke bei der Montage einer PV-Anlage. Egal ob Wohnbauten, Gewerbe- oder Industrieliegenschaften, die sgsw sorgt für Planung, Bau und Unterhalt der Solarmodule. Für Mieter:innen bietet sich die Möglichkeit, der St.Galler Solar Community beizutreten und eigene Solarstromeinheiten zu kaufen.

Weitere Infos: sgsw.ch/solar

Doch wie mit jeder im Kollektiv genutzten Einrichtung liegt auch hier Konfliktpotenzial verborgen, wenn die Nutzungsvereinbarungen nicht ordentlich miteinander erarbeitet werden. Wer schon einmal Diskussionen um den gemeinsamen Waschplan in der Waschküche geführt hat, kann sich vorstellen, wie schwierig es wäre, den Stromverbrauch über den Tag mit seinen Nachbarn zu koordinieren. Umso wichtiger werden dann transparente Anzeigen, welche das aktuelle Stromangebot und den Bedarf vermitteln. In diesem Austausch und der gemeinschaftlichen «Kontrolle» sieht Griego Chancen. «Nicht nur würden wir den Strom dann aus erneuerbaren Quellen beziehen. Wir hätten auch einen Anreiz, unseren Stromverbrauch zu reduzieren oder auf intelligentere Zeiten zu verlegen.»

Eine Idee, die auch Druckereiinhaber Niedermann nicht für abwegig hält. Er hält laufend nach neuen PV-Anlagen in der Nachbarschaft Ausschau. «Wenn der Strom von diesen Anlagen auf direktem Weg zu uns käme, könnten wir eines Tages ganz autonom mit Solarstrom produzieren», so die Vision des Geschäftsführers.

Beispiele aus Kalifornien zeigen, dass hier vor allem technische Herausforderungen lauern. Innert kurzer Zeit sind dort sehr viele Solaranlagen entstanden, welche durch ihre gemeinsame Einspeisung eine enorme Belastung für die Elektrizitätsnetze zur Folge hatten. In der Schweiz sieht Peter Graf dieser Entwicklung jedoch gelassen entgegen. Da der Wandel zu Solarstrom sukzessive über einen längeren Zeitraum geschehe, hätten die Stadtwerke genügend Zeit, ihre Netze anzupassen. «Klar, wenn wir von heute auf morgen unsere Energieziele für 2050 erreichen würden, hätten wir ein Problem», so der Bereichsleiter Energie.

Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg, der gepflastert ist mit noch vielen zu verlegenden Solarmodulen. Unglücklich wäre Genossenschaftspräsident Moser nicht, wenn eines Tages keine Plätze mehr zu finden wären auf den städtischen Dächern. «Zwar wäre die Solar Genossenschaft damit obsolet. Unser Ziel, St.Gallen mit Solarstrom zu versorgen, hätten wir aber gleichzeitig erreicht.»

Auch hier gäbs noch Potenzial. Wer erkennt das Gebäude?