Für Wenige oder für alle?

Wer grün tickt, sagt am 12. März Ja zum Baumschutz in der Stadt St.Gallen. Bei der Wiesli-Initiative ist es eine Frage der Prioritäten. Grüne Gründe gibt es dafür und dagegen, aber auch noch andere Argumente.
Von  Corinne Riedener
Seit über 40 Jahren ein beliebter Treffpunkt: das Wiesli. (Bilder: Louis Voucher)

Das Wiesli im St.Galler Museumsquartier ist seit 40 Jahren mehr als nur ein Spielplatz und Begegnungsort für die Quartierbewohner:innen. Und auch eine Zwischennutzung aus Goodwill: Der Boden gehört der St.Galler Pensionskasse (SGPK). Sie hat in dieser «Baulücke» einen Neubau mit 13 Zweieinhalb- und Dreieinhalbzimmerwohnungen geplant. Vom Wiesli bliebe weniger als die Hälfte übrig, was der dortigen Community natürlich nicht passt.

Diverse Verhandlungen mit der Grundeigentümerin und der Stadt sind in den letzten Jahren gescheitert, also hat die IG Museumsquartier die Initiative «Für lebendige Quartiere – Wiesli retten» lanciert. Kommt sie am 12. März durch, ist die Stadt verpflichtet, der St.Galler Pensionskasse den marktüblichen Bodenpreis auszuzahlen, irgendwas zwischen eineinhalb und zwei Millionen Franken, je nach Schätzung. Die SGPK bliebe dann zwar die Eigentümerin, aber sie dürfte dort nicht mehr bauen, die Parzellen würden ausgezont. Materielle Enteignung nennt sich dieser Vorgang.

Während das Wiesli von seinen Anwohner:innen mit voller Inbrunst verteidigt wird, hat das Thema im Stadtparlament keine Grundsatzdiskussionen ausgelöst. Die rechte Ratshälfte war wenig überraschend konsequent dagegen, weil «Enteignung!», Rot-Grün machte sich unter anderem Sorgen um künftige Zwischennutzungen, die nach einem Pro-Wiesli-Entscheid allenfalls gefährdet wären.

Am Ende wurde das Begehren mit 53 zu 5 Stimmen mehr als deutlich abgelehnt. Im Februar luden sämtliche sechs Fraktionspräsident:innen in der Militärkantine zur gemeinsamen Pressekonferenz, um über ihr einhelliges Nein zu informieren – eine Seltenheit in dieser Stadt. Gewinnen die «Wieslianer:innen» die Abstimmung, hätte die Stimmbevölkerung gegen den Willen des Parlaments entschieden. Und der Stadt den Auftrag erteilt, auf Kosten aller eine Wiese für Wenige zu berappen.

Verdichtung oder Durchgrünung?

Aus ökologischer Sicht gibt es gute Gründe dafür und dagegen. Es ist eine Frage der Prioritäten: Verdichtung oder Durchgrünung? Die Stadt braucht Wohnraum, vor allem bezahlbaren, es ist also grundsätzlich wichtig und richtig, die Baulücken in der Innenstadt zu füllen und so den grünen Ring zu schützen, gerade in einem Quartier, das eigentlich reich an Grünräumen ist.

Genauso wichtig ist es aber, nicht weiter blind alles der Verdichtung unterzuordnen. Viel zu viele Grünflächen wurden unter dem Diktat der Verdichtung in den letzten Jahrzehnten versiegelt, verödet oder uninspiriert vergrast. Man muss so viele wie möglich bewahren. Andernorts, zum Beispiel in Einfamilienhausquartieren, wäre das Verdichtungspotenzial sicher grösser als an den wenigen Parzellen im Museumsquartier.

Andererseits liegt der Stadtpark gleich um die Ecke. Man hätte sich auch einfach für die 40 kostenlosen Jahre auf dem Wiesli bedanken und die Fussballtore 50 Meter weiter aufstellen können. Es ist ein geschickter kommunikativer Schachzug der Wiesli-Initiant:innen, ihr Anliegen so «gross» zu verpacken, es als grün und relevant für alle Quartiere zu verkaufen, obwohl es hier ehrlicherweise zuerst einmal um ein reines Partikularinteresse einiger Weniger geht.

Das St.Galler Museumsquartier mit Wiesli und Stadtpark. (Lageplan: DOME)

Es ist einfach, sie als NIMBY-Movement («not in my backyard») abzustempeln. Sie wollen ihre unmittelbare Nachbarschaft schützen, was völlig legitim ist. Politische Regungen haben ihren Ursprung nicht selten in Eigeninteressen. Dasselbe könnte man über die Anwohner:innen der St.Galler Boppartswiese sagen, die eine Initiative gegen den dort geplanten Bau der neuen Tagesbetreuung planen, um ihre Fussballwiese zu erhalten.

Warum ist der Stadtpark nicht mehr Wiesli?

Die Grünflächen sind rar in der Stadt. Künftig wird es wohl noch einige vergleichbare Abstimmungen geben, unabhängig von den dahinterliegenden Motiven. Die Initiative zur Sömmerliwiese 2017 im bereits recht verdichteten Lachen-quartier war quasi der Präzedenzfall: Sie wurde von den Stimmberechtigten überraschend deutlich angenommen, in der Folge wurde die Wiese ausgezont und die Stadt, die Grundeigentümerin, musste sich einen neuen Platz für die Tagesbetreuung suchen. Partizipation seitens der Bevölkerung war für die Baudirektion damals noch Neuland, anders als heute rund um die «Boppiwiese», wo man es zumindest halbwegs versucht. Trotzdem wird es wohl zur Abstimmung kommen.

Zurück zum Wiesli. Natürlich kann man feststellen, dass hier vor allem tendenziell privilegierte Menschen leben, auch was die Grünflächen angeht, insbesondere mit dem Stadtpark gleich vor der Tür. Man könnte aber die Standesdünkel auch beiseiteschieben und sagen: Alle Quartiere haben das Recht auf ein Wiesli, egal ob Lachen oder Rotmonten.

Es greift zu kurz, die Initiative als reines Eigeninteresse einer eingeschworenen Nachbarschaft abzutun (auch wenn diese offenbar genug Ressourcen hat für einen professionellen Abstimmungskampf und sogar bereit gewesen wäre, die Wiesli-Parzellen der SGPK für 1,6 Millionen abzukaufen). Die Wiesli-Initiative geht alle etwas an, die in dieser Stadt leben, weil sie relevante Fragen für die Zukunft stellt: Welche Bedeutung haben funktionsoffene Grün- und Freiräume im Stadtgefüge? Wie können alle Quartiere solche bekommen? Was sind die Behörden bereit, dafür zu tun?

Oder konkreter: Warum ist der Stadtpark nicht mehr Wiesli? Was läuft falsch, dass er nicht mehr als Freiraum wahrgenommen und genutzt wird? Wobei sich das vielleicht bald ändern könnte: Im Januar wurde ein Bevölkerungsvorstoss eingereicht mit dem Ziel, «die Aufenthaltsqualität und die Biodiversität in den städtischen Parks, insbesondere auf der Kreuzbleiche und im Stadtpark, zu erhöhen». Gefordert werden mehr Tische, Bänke, öffentliche Grillstellen, Spielplätze, Trainingsmöglichkeiten, aber auch mehr Sträucher und Bäume.

Wer hat Angst wovor?

Bäume – darum geht es auch bei der zweiten Vorlage, über die am 12. März in St.Gallen abgestimmt wird und die, zumindest aus grüner Sicht, keine Entscheidungsschwierigkeiten mit sich bringt: der bestehende Baumschutz soll auf das ganze Stadtgebiet ausgeweitet werden. Der Stadtrat und eine Mehrheit des Parlaments unterstützen diese Zonenplanänderung im Sinne des Stadtklimas.

Im Rahmen der Bauordnung 1972 wurden in der Stadt «Gebiete mit schutzwürdigen Grünflächen mit Baumbestand» geschaffen. Dazu gehörten zum Beispiel die städtischen Parks, die Altstadtgräben, Teile des Rosenbergs und des Bernegghangs oder die Friedhofanlagen. 2006 wurden diese sogenannten Baumschutzgebiete um weitere ergänzt. Bäume in diesen Gebieten mit einem Stammumfang von mehr als 80 cm, gemessen 1 Meter ab Boden, unterliegen einer Fällbewilligung. Künftig soll diese für alle 80-cm-Bäume auf dem Stadtgebiet gelten.

Die Bürgerlichen und Wirtschaftsverbände sind gegen diese Ausweitung des Baumschutzes. Sie fürchten «mehr Bürokratie, Eigentumsbeschränkungen und Behinderungen bei der zeitlichen und baulichen Entwicklung der Stadt». Übertriebene Ängste, angesichts dessen, dass die Bewilligung in aller Regel unkompliziert erteilt wird, sofern der Baum nicht besonders schützenswert ist und im Bereich einer geplanten Hauptbaute steht. Und noch ihr kleinstes Problem, wenn wir die Grünflächen, Bäume und Sträucher nicht endlich konsequent anfangen zu schützen. Die Biodiversität ist in Gefahr und damit die Lebensqualität aller Menschen: Das sind die relevanten Ängste.

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.