Fremd in der Fremde

Aus der Schweiz zwangsexiliert, schuf Antonio Ligabue im Dorf Gualteri in der Poebene ein faszinierendes Werk von knapp 900 Gemälden. Zum ersten Mal ist jetzt in der verlorenen Heimat des «tragischen Expressionisten», im Museum im Lagerhaus St.Gallen ein repräsentativer Ausschnitt zu sehen.
Von  Wolfgang Steiger
Antonio Ligabue (1899-1965): Autoritratto (Selbstbildnis), undatiert (1940-42)

Später tat es ihr unendlich leid. Mit der Klage auf dem Gemeindeamt Romanshorn gegen ihren schwierigen, manchmal aufbrausenden, 19jährigen Pflegesohn Anton löste Elise Göbel-Hanselmann ungewollt seine Ausweisung aus der Schweiz aus. Sie hatte ihn als schwächliches Kind mit neun Monaten in Pflege genommen und aufgepäppelt. Die italienische Staatsbürgerschaft seiner Mutter und den Namen Laccabue hatte er behalten.

In grosser Sorge um ihn, der kein Wort italienisch sprach, wandte sie sich sofort an das italienische Generalkonsulat in Zürich. Aber sie konnte seine Exilierung nach der Gemeinde Gualteri mitten in der Po-Ebene vom 15. Mai 1919 nicht mehr rückgängig machen.

Ligabue an der Staffelei im Hof des Hauses von Andrea Mozzali, Guastalla 1950.

Vierzig Jahre danach, kurz vor seinem Tod 1965, ist Ligabue in Italien ein gefeierter Aussenseiter-Künstler. Bis heute finden Ausstellungen seiner Bilder in den grösseren Städten Italiens statt: Rom 2016, Padua 2017, Genua 2018. Sein tragisches Leben ist inzwischen mehrfach verfilmt worden. Dieses Jahr kommt der Film Volevo nascondermi von Giorgio Diritti, in dem Elio Germano den Ligabue spielt, in die Kinos.

Antonio Ligabue – Der Schweizer Van Gogh: bis 8. September, Museum im Lagerhaus St.Gallen

museumimlagerhaus.ch

Höchste Zeit deshalb, Ligabues Leben und Werk auch in seinem Herkunftsland Ostschweiz kennen zu lernen. Ironie des Schicksals: Die erste Ligabue-Ausstellung in der Schweiz im St.Galler Museum im Lagerhaus wird zum Gedenkanlass 100 Jahre nach der Zwangsabschiebung des Künstlers. Eine Tragödie für den Betroffenen und eine Schande für die Schweiz – wo nach der Annahme der Ausschaffungsinitiative der SVP 2010 noch heute solche Fälle passieren können. Wenigstens fand dann die anschliessende Durchsetzungsinitiative gegen die Härtefallklausel bei den Stimmberechtigten keine Mehrheit mehr.

Der tragische Expressionist

Entwurzelt und auf sich allein gestellt, schlägt sich Ligabue unter prekären Lebensbedingungen in der Auenlandschaft des Po als Taglöhner durch. Mit Eifer und ganz sicher auch Vergnügen zeichnet und malt er, modelliert Tiere aus dem Lehm des Flusses. Künstler der Gegend werden in den 1930er Jahren auf den Aussenseiter aufmerksam. Er lernt von ihnen das Malen mit Ölfarben und die Technik der Kaltnadelradierung. Mehrmals wird er wegen akuter Psychosen in die psychiatrische Anstalt San Lazzaro in Reggio Emilia eingeliefert.

Damals als 13jähriger war er wegen seiner Lernschwäche für zwei Jahre in die «Anstalt für schwachsinnige Kinder» in Marbach im St.Galler Rheintal eingewiesen worden. Zur Heilpädagogik in jener Zeit gehörte auch gestalterischer Unterricht. Hier fiel er mit seinem Zeichentalent bereits auf. «In der Schule schwach ausser einseitiger Begabung im Zeichnen,» heisst es in einem Gutachten.

Die Ausstellung zeigt anhand von Originaldokumenten schwerpunktmässig Ligabues erste zwanzig Lebensjahre in der Ostschweiz, die das Fundament für sein späteres künstlerisches Schaffen sind. Werke aus dieser Zeit sind nicht erhalten.

Renato Martinoni, emeritierter Professor der Universität St.Gallen, steuerte zu diesem Abschnitt in Ligabues Biografie grundlegende Recherchen bei. In den späteren Gemälden Ligabues finden sich viele Spuren der Kultur seiner Herkunft: die hügeligen Landschaften, die «sennische» Kleidung der Figuren, die typischen Ostschweizer Häuser und Burgen; im grossen Bild, das seine Ausschaffung aus der Schweiz thematisiert, ist die Kathedrale zu erkennen.

Die Ausschaffung: Diligenza con cavalli (Pferdepostkutsche), undatiert (1959–1960)

Um die Selbstermächtigung Ligabues zu begreifen, sind hochkarätige Gemälde der Grössen der Ostschweizer peintres naifs in die Ausstellung gestreut, unter anderem Werke von Bartholomäus Lämmler, Adolf Dietrich und Hans Krüsi. Der junge Ligabue war als Tagelöhner und Erntehelfer unterwegs; dass er in Bauernhäusern und Wirtschaften Bilder von Volksmalern sah, ist sehr wahrscheinlich.

Theater in der Ausstellung: «Ein Kuss – Antonio Ligabue»: 5. April, 20 Uhr und 6. April, 19 Uhr, Museum im Lagerhaus St.Gallen

Der italienische Co-Kurator Sandro Parmiggiani hat dazu aber auch seine Einwände. Er lehnt die Einreihung Ligabues als Naiven vehement ab: «Jahrelang wurde die Einschätzung von Ligabues Werk irregeleitet und herabgemindert durch die Bezeichnung als Naive Kunst», klagt er in seinem Aufsatz im Ausstellungskatalog, «zu der später auch noch die eines durch den Wahnsinn unauslöschlich gezeichneten Künstlers kam.» Aber die besten Kunstkritiker Italiens sehen in ihm nicht den einfältigen Naiven, sondern den «anderen» Maler und Bildhauer, dessen Andersartigkeit seine unvergleichliche künstlerische Sprache ist, zu der er ohne Kunstakademie fand, die er vielmehr direkt aus dem Leben schöpfte. Mit seiner aussergewöhnlichen malerischen Kraft entstanden Gemälde von Schönheit und Brutalität und eine grosse Zahl schmerzhaft-schonungsloser Selbstportraits, fern jeder Idylle.

Autorittrato con mosche (Selbstbildnis mit Fliegen), undatiert (1956–57)

Besucher und Besucherinnen des Museums im Lagerhaus, das auf Naive Kunst und art brut spezialisiert ist, erhalten von Parmiggiani die dringende Aufforderung, Etiketten und Klassifizierungen ausser Acht zu lassen und: «…nicht die Arbeit eines Künstlers zu irgendwelchen Kunstströmungen erstarren lassen, ihr den Atem zu nehmen.» In Italien gilt Ligabue heute als «tragischer Expressionist», vergleichbar Vincent Van Gogh, auf den der Ausstellungstitel denn auch Bezug nimmt.

Raubtierkapitalismus

Er war ein Einzelgänger. Ein kleiner, magerer Mann von schwacher Konstitution, mit Trichterbrust, einem Kropf, Hakennase und grossen Ohren. Als Kind wurde er oft gehänselt, was ihn wütend machte und wogegen er sich wehrte. Ligabue liebte die Tiere mehr als die Menschen. Abbildungen aus Tierbüchern wie Brehms Tierleben waren oft seine Inspirationsquellen.

Giaguaro con gazzella e serpente (Jaguar mit Gazelle und Schlange), undatiert (1948)

Wie ein Schamane transformierte er sich in das Tier, das er malte. Die Grenze zwischen Mensch und Tier löst sich in diesen Momenten auf. Im preisgekrönten Dokumentarfilm Lo specchio, la tigre e la pianura (Der Spiegel, der Tiger und das flache Land)  von Raffaele Andreassi von 1960 heult er wie ein Raubtier. Seine Tierdarstellungen handeln vom Kampf ums Überleben oder auch von der Überlegenheit des Raubtieres über das Opfer in der üppigen Natur, die alles zusammenhält.

Das Leben in «Klein-Venedig»

Eine kleine, eindrückliche Zusatzausstellung in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv ist dem St.Galler Italiener-Ghetto «Klein-Venedig» beim Bahnhof St.Fiden um 1910 gewidmet. Die Fotos und Texte zeigen exemplarisch die katastrophalen Lebensumstände für die italienischen Migranten. Der Dschungel in Ligabues Bildwelten befand sich im damaligen St.Gallen-Tablat.

Antonio Ligabues Mutter Maria Elisabetta Costa stammte aus Venetien. Er kam am 18. Dezember 1899 als uneheliches Kind zur Welt, der Vater war unbekannt. Seine Mutter heiratete später Bonfiglio Laccabue aus Gualteri, dessen Namen er erhielt, den er zum Künstlernamen in Ligabue abwandelte. Sein Pflegvater Johannes Valentin Göbel war ein aus Deutschland eingewanderter Schreiner, der im Suff grob wurde. Alle waren auf der Suche nach Arbeit und dauernd am Umziehen. Seine drei Halbgeschwister und die Mutter starben am 24. Januar 1913 in Widnau an einer Fleischvergiftung.

Die Liebe zur Moto Guzzi

Als Ligabues Bilder in den 1950er Jahren immer begehrter wurden, kaufte er sich einen Moto Guzzi-Töff. Mit Schnur band er sich die Bilder über den Rücken, um sie damit zu transportieren.

Autoritratto con moto, cavalletto e paesaggio (Selbstbildnis mit Motorrad und Staffelei in der Landschaft), undatiert (1953–1954)

Kurator Sandro Parmiggiani, der in Gualteri aufwuchs, erzählte vor der Ausstellungseröffnung im Museum im Lagerhaus, wie er es als Junge noch selbst erlebte, als er mit Kollegen auf dem Kirchhof Fussball spielte und Ligabue mit laut aufheulendem Motor vorbeifuhr. Sie als Kinder rannten ihm schreiend hinterher.

Mit Geld konnte er nicht umgehen. Er leistete er sich ein Auto und zwei Chauffeure. Dann verliebte er sich in Cesarina, eine Wirtstochter, die er heiraten wollte. Doch im November 1962 erlitt er einen Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmte, und starb am 27. Mai 1965 im Armenhaus von Gualteri.