Frauenarchiv – für die Zukunft
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Der mit 20’000 Franken dotierte Anerkennungspreis wird jährlich an Personen oder Institutionen vergeben, die sich mit ihrem kulturellen Wirken besondere Verdienste um die Stadt und ihre Bevölkerung erworben haben. Den Hauptpreis bekommt das Frauenarchiv (im Titelbild ein Archivbild von ungebrochener Aktualität: Demonstration für Lohngleichheit in St.Gallen in den 70er-Jahren, Fotograf: Raniero Fratini).
Daneben vergibt die Stadt mit je 10’000 dotierte Förderungspreise – sie gehen an Claudia Roemmel für ihr tänzerisches und choreografisches Schaffen, an den Autor Heinrich Kuhn, die Künstlerin Andrea Vogel sowie Anita Zimmermann für ihr Engagement als Kulturvermittlerin – zuletzt hat ihr «geiler Block» Aufsehen erregt. Die Feier findet am 9. November statt.
«Fundorte für Zukünftiges»
«Sind Archivarinnen die Totengräberinnen dessen, was einmal für Anstoss gesorgt und Veränderung bewirkt hat? Oder: Sind Frauenarchive Teil einer neuen Art von Frauenbewegung, die projektorientiert, professionell, netzwerkend und im Bewusstsein einer eigenen Geschichte ans Werk geht?» Diese Fragen hat Renate Bräuninger im Oktober 2000 in Saiten gestellt, in jener Ausgabe zur «Neuen Frauenbewegung», die Sabin Schreiber und das Archiv für Frauen- und Geschlechtergeschichte mitgestaltet haben. Die Antwort fiel erwartungsgemäss positiv aus: Frauen- und Geschlechtergeschichte wolle keine «Entsorgungsanlagen für Ausgedientes» schaffen. Sondern: «Fundorte für Zukünftiges».
Das war vor fünfzehn Jahren, und das erst im Jahr zuvor institutionalisierte Frauenarchiv hat seither mit einer Vielzahl von Aktivitäten seine Unverzichtbarkeit bestätigt. 2003 erschien zum Kantonsjubiläum das Buch Blütenweiss bis rabenschwarz – St.Galler Frauen – 200 Porträts. Rund um den Sticker-Roman von Elisabeth Gerter organisierte das Archiv mehrmals Lesekampagnen, einen Schreibwettbewerb und die Neuausgabe des Buchs. 2011 erschien der Quellenband Frauensache, es gab Projekte mit Migrantinnen, Vorträge in der Erfreulichen Universität und Begleitanlässe zu Ausstellungen.
Im Archiv (heute mit dem Namenszusatz «… und Sozialgeschichte») befinden sich rund 110 Archivbestände von Organisationen und Gruppen, vorwiegend Archivalien der Alten und Neuen Frauenbewegung sowie verschiedener Berufsverbände und sozialer Bewegungen in der Ostschweiz. Das Archiv besitzt Vor- und Nachlässe von Frauen und Männern, Oral-History-Dokumente (Interviews zum Leben von Frauen und Männern auf CD, DVD und Tonbändern, die teilweise transkribiert sind), Fotos, Plakate und andere Bilddokumente sowie eine Datenbank «Bibliografie zur Frauen- und Geschlechtergeschichte Ostschweiz».
Das Archiv, so die Würdigung zum Anerkennungspreis, «sammelt, sichert und erschliesst die Lebensspuren von und über Frauen der Ostschweiz seit bald dreissig Jahren». Am Anfang stand die Gründung der Frauenbibliothek Wyborada 1986; ab 1990 bauten Mechthilf Kunath, Ruth Rothenberger, Marina Widmer und Renate Bräuninger die Dokumentationsstelle zur Geschichte der Frauen in der Ostschweiz (doku) auf, die schliesslich in die Gründung des Archivs mündete.
Warum es ein Archiv braucht, brachten Sabin Schreiber und Marina Widmer damals im Saitenheft vom Oktober 2000 kurz und knapp auf den Punkt: «Archive sind Herrschaftsinstrumente.»
«Migrationsgeschichte wird immer wichtiger» – Fragen an Marina Widmer, Geschäftsführerin des Frauenarchivs
Saiten: Wofür braucht es das Frauenarchiv?
Marina Widmer: Unsere selbstauferlegte Aufgabe ist das Sichern, Speichern, Erforschen und Vermitteln von Dokumenten zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der Ostschweiz und zur Geschichte der sozialen Bewegungen. Speziell daran ist, dass wir nicht abwarten, was auf uns zukommt, sondern aktiv Unterlagen acquirieren und auf Institutionen und Personen zugehen – jüngst etwa bei der Schliessung der Casa latinamericana. Ein weiterer und wachsender Schwerpunkt ist es, die Migration einzubeziehen.
Was ist die dringlichste Zukunftsaufgabe?
Marina Widmer: Was ich eben genannt habe, die Sozialgeschichte der Migration: Darum kümmert sich ausser uns niemand, da gibt es noch zahllose Lücken. Und das zu ändern ist umso wichtiger, als sich die Erinnerungskulturen stark unterscheiden. Es ist etwas anderes, ob sich ein Schweizer erinnert oder eine Kurdin. Und diese unterschiedlichen Erinnerungen sollen alle Platz haben, in der Gesellschaft wie in unserem Archiv.
Was steht als nächstes Projekt an?
Marina Widmer: Neben der Forschung geht es uns immer auch um die Vermittlung von Geschichte. Im Februar/März zeigen wir in Zusammenarbeit mit dem Museum im Lagerhaus eine Ausstellung zum internationalen Holocaust-Gedenktag – ein Termin, der in der St.Galler Agenda betrüblicherweise nicht vorkommt, ausser beim italienischen Centro socioculturale und bei uns. Und ab März 2016 ist die Ausstellung zur italienischen Migration nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, als vorläufiger Abschluss einer seit längerem dauernden Forschungs- und Sammeltätigkeit.
Ich kenne als Mann das Frauenarchiv nicht aus eigener Anschauung. Bloss mein Fehler? Oder ein Zeichen, dass sich das Archiv öffnen müsste?
Marina Widmer: Ich lade gern zu einer Führung ein. Aber das Archiv hat sich schon vor Jahren geöffnet, Geschichten von Männern etwa fanden in die Ausstellung zum «lungo addio» Eingang oder in das Oral-History-Projekt. Vernetzung mit anderen Institutionen ist uns ungeheuer wichtig, beispielhaft dafür ist der Verein Pantograph oder das Palace mit seiner Erfreulichen Universität.