Fotos erzählen Geschichte

«Dieses Buch handelt nicht vom Krieg, aber es wird vom Krieg umklammert», schreibt Katja Petrowskaja im Nachwort ihres hochgelobten Kolumnenbandes, der 57 Bilder und Texte umfasst und die unterschiedlichsten Themen und Motive der Zeit- und Kulturgeschichte behandelt. Bevor die Prosaminiaturen Eingang in den Suhrkamp-Band fanden, erschienen die Bildtexte im Rhythmus von drei Wochen zwischen Juni 2015 und Oktober 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Katja Petrowskaja hatte in all der Zeit carte blanche, über welche Motive sie schreiben wollte. Zu den Fotos kam sie auf verschiedenen Wegen: Ein Motiv entdeckte sie beim Durchblättern einer Zeitung, ein anderes in einem Fotoband eines berühmten Fotografen, ein drittes im Internet, ein viertes im eigenen Familienarchiv. Oder jemand überreichte ihr ein Foto, das sie zum Gegenstand ihrer essayistischen Auseinandersetzung machte.
Schreiben gegen die Fassungslosigkeit
Im März 2014 war Petrowskajas Roman Vielleicht Esther – für einen Ausschnitt erhielt sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis – über den Zweiten Weltkrieg und die Nazizeit in die Buchhandlungen gekommen. Im gleichen Monat besetzte der russische Staat die Krim, den die ukrainisch-deutsche Autorin als ihren Sehnsuchtsort bezeichnet.
Im Nachwort ihres Kolumnenbandes schreibt sie dazu: «Ich war fassungslos, taub, wütend. Mein ganzer Körper wehrte sich dagegen, zu glauben, dass Russland, das zusammen mit der Ukraine den Faschismus besiegt hatte, selbst zum Aggressor geworden war. Ich konnte nicht weiterarbeiten wie zuvor und suchte nach einer neuen Form, nach einer Haltung, aus der heraus ich wieder würde schreiben können, auch über die Dinge, die ich liebe.»
Auf der Suche nach einer neuen Form stiess die Autorin auf Fotografien, schrieb über das, was die Bilder mit ihr anstellten, was sie auslösten, und mit der Zeit entstand so ein, wie sie es selbst nennt, «Tagebuch des Nachdenkens».
Arbeit hiess Frieden
Das erste Foto, welches dieses Nachdenken auslöste, zeigt einen Zigarette rauchenden und den Rauch in die Luft blasenden Bergmann in der ukrainisch-russischen Grenzregion Donbass. Das Gesicht russgeschwärzt, blickt der Bergarbeiter direkt in die Linse der Kamera. Im Jahr 2015 gehörte der Bergmann zu denjenigen Arbeitern, denen seit Monaten kein Gehalt mehr ausbezahlt wurde und die dennoch stur zur Arbeit gingen, obwohl im Land Krieg herrschte. In ihrer Kolumne schreibt Petrowskaja: «… aber sie arbeiteten, denn Arbeit war Frieden und der Krieg absurd …».
Das Foto ist ein Farbfoto, aus direkter Nähe aufgenommen. Die Fotografin Yvgenia Belorusets hatte Petrowskaja gegenüber erklärt, dass der Bergmann damals in einem kleinen Ort namens Stschastje (auf Russisch «Glück») auf einer Bank sass und sie sich hinknien musste, um die Aufnahme zu machen. Was das Foto bei ihr auslöst, beschreibt Petrowskaja folgendermassen: «Der Bergmann ist schwarz, und seine Augen sind weiss, aber er ist nicht blind, ich bin es, mit meinem Unwissen, mit meiner Ignoranz, gegenüber dieser Region, gegenüber diesen Menschen. Die Erkenntnis war schwarzweiss, aber das Foto war farbig, daraus blickte mir meine eigene Blindheit, meine eigene Ohnmacht entgegen.»
Ein Stück Mauerfall
In ihrer Kolumne mit dem Titel «Adoptierte Geschichte» steht ein Foto vom November 1989 im Fokus. Petrowskaja erstand den einzelnen Fotoabzug auf einem der grössten Flohmärkte im Berliner Mauerpark. Das Foto in Schwarzweiss zeigt einen Mann und eine Frau. Die Frau trägt Sonnenbrille. Im Hintergrund erkennt man die Berliner Mauer mit Soldaten. Auch Graffitis.
Über den Flohmarkt und das dort gekaufte Foto schreibt die Autorin: «Seit zwei Jahrzehnten wird hier Geschichte in Habseligkeiten und kleine Objekte zersplittert und verkauft. So habe auch ich ein privates Stück Mauerfall gekauft, als wäre es ein Teil meiner persönlichen Geschichte.»
Irgendwann landet die erwähnte Fotografie von einem Regal mit privaten Bildern auf dem persönlichen Schreibtisch der Autorin. Immer wieder betrachtet sie das vor ihr stehende Foto, denkt über dessen ureigene Geschichte nach und erhält wunderlicherweise ein paar Wochen nach Veröffentlichung ihrer Zeitungskolumne einen Brief aus Rom, und zwar ausgerechnet von der Frau, die sich selbst auf dem Zeitungskolumnenfoto erkannt hat.
Die Autorin schreibt, «… sie sei die Frau auf dem Foto, sie habe keine Fotos mehr aus dieser Zeit an der Mauer, nur jetzt das meine, und sie sei unsicher, ob die banale Realität ihres Auftauchens meiner Phantasie besser keine Grenzen ziehen solle».
Politik des Schwarzweiss
Ein weiteres Foto, welches von der Autorin im Band einlässlich besprochen wird, ist weltbekannt, trägt den Titel Trolley, New Orleans – 1955 und stammt vom schweizerisch-amerikanischen Fotografen Robert Frank aus dessen Band The Americans.
Katja Petrowskaja beschreibt das Foto folgendermassen: «Aus jedem Fenster schaut einem ein eigenes Leben entgegen, wie eingerahmt, als wäre ein Fenster ein Bildausschnitt für sich.» Und einige Abschnitte später: «In diesem Bus sitzen die weissen Menschen vorne und die schwarzen hinten. Wir sind Zeugen von ethnischer Trennung und folgen dabei den Rhythmen des fotografischen Schwarzweiss, in dem auch die Hautfarbe einem kompositorischen Verfahren dient … im Dezember desselben Jahres beginnt Rosa Parks ihren beispiellosen Boykott für die Gleichheit des Fahrens.»
Buchvorstellung:
Do 22. September, 20 Uhr, Kunstmuseum St.Gallen
Originell und eindrucksvoll, dabei stets verständlich und zugänglich sind die kurzen Texte Katja Petrowskajas. Fasziniert blickt man auf die Auswahl der hoch spannenden Fotos und folgt nach jedem gezeigten Motiv mit Begeisterung und Neugier der intellektuellen Auseinandersetzung der Autorin mit dem, was sie auf dem jeweiligen Bild erkennt oder zu erkennen glaubt.
Das Buch ist eine wahre Fundgrube, sowohl in textlicher als auch bildlicher Hinsicht. An der St.Galler Lesung werden die im Buch abgedruckten Fotos (die der Verlag für Buchbesprechungen nur in einer knappen Auswahl freigibt) grossformatig projiziert.