Fotografie – Wie es ist und sein könnte
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Ein an den Rändern erschlaffter Salatkopf stattlicher Grösse, für 1.50 tschechoslovakische Kronen – das Stück Gemüse in Schwarz-Weiss hat es dem Kurator der Fotostiftung Schweiz, Peter Pfrunder, angetan. Der «in eine Plastikschüssel eingebettete organische Haufen» strahle trotz seiner Unansehnlichkeit etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes aus.
Das Geheimnisvolle erschliesst sich in Iren Stehlis Werk oft erst auf den zweiten Blick. Aufnahmen von Essensausgaben, Tanzkursen und Schaufenstern wirken als Einzelbilder bisweilen unspektakulär, in der Zusammenstellung jedoch entwickeln sie ihre eigene Sprache.
In der Form des fotografischen Essays zeichnet Stehli ein Bild der vom Umbruch geprägten tschechoslovakischen Gesellschaft, von den 1970er Jahren bis heute. Dieser Wandel wird dem Betrachter etwas gar einfach durch den Blick ins Schaufenster vermittelt, wenn randvoll gefüllte und sorgsam gestapelte Einmachgläser durch Coca-Cola-Werbung ersetzt werden.
In Prag hängen geblieben
Stehli, Tochter eines Schweizers und einer Tschechin, wuchs in Zürich auf und machte sich nach der Matura für einen Sprachaufenthalt in die Heimat ihrer Mutter auf. Aus einem halben wurden elf Jahre – Stehli blieb, entdeckte die Fotografie und absolvierte ein Studium an der Filmakademie Prag.
Dort lernte sie auch Libuna Siváková kennen, die mit ihrer Mutter im Studentenheim als Putzfrau arbeitete. Die in Žižkov, einem Prager Stadtteil lebende junge Roma bat Stehli, sie zu fotografieren. Das Porträt wuchs zur umfassenden Dokumentation von Libunas Lebensgeschichte. Über den Zeitraum von 1974 bis 2009 erzählen die Bilder von Kindern und Kindeskindern, privaten Tragödien bis zum Krebstod Libunas.
«So, wie es war»
Iren Stehli hat das Leben fotografiert, «so, wie es war». Anna Fárová, damals Dozentin an der Prager Film- und Fernsehhochschule, entdeckte Stehli und begleitete sie in ihrem Werdegang. «Ihre Fotografien erzählen von der tschechischen Wirklichkeit, sie sind von keinen zeitgenössischen Kunstströmungen beeinflusst.» Doch aus der Möglichkeit heraus, sich zwischen den Ländern frei zu bewegen, ergebe sich eine gewisse Leichtigkeit in der Darstellung von Situationen, die für sie damals problematisch gewesen seien. Fárová selber wurde als Mitunterzeichnerin der Charta 77 mit einem Berufsverbot belegt.
Abbild der Wirklichkeit oder wandelbare Oberfläche?
Nicht wie es ist oder war, sondern wie es sein könnte, erfahren Besucher und Besucherinnen dagegen in der Ausstellung Surfaces – Neue Fotografie aus der Schweiz in den Sammlungsräumen des Fotomuseums. Gemeinsamer Nenner: die aktuelle Befragung vermeintlicher Glätte und Undurchdringlichkeit von Oberflächen im Kontext medienspezifischer Fragestellungen wie dem digital turn. Dominique Koch etwa bricht mit der Vorstellung der Fotografie als statischem Zeitzeugnis: In der Arbeit Nine Minutes After werden dokumentarische Motive manipuliert und entfremdet, Szenen ausradiert und durch hypothetische Sätze und Textfragmente ersetzt.
Fantastische Formen aus Magazinabbildungen kreiert der St.Galler Künstler Beni Bischof: Amerikanische Sportwagen der 1980er werden, digital bearbeitet, aufpoliert und reduziert. Das Ergebnis sind metallene Fetischobjekte der Serie Handicapped Cars (2009).
Breites Spekturm
Weitere in der Ausstellung vertretene Künstler sind Stefan Burger, collectif_fact, Cédric Eisenring/Thomas Julier, Matthias Gabi, Thomas Galler, Dominik Hodel, A.C. Kupper, Adrien Missika, Nils Nova, Taiyo Onorato/Nico Krebs, Jules Spinatsch und Herbert Weber.
Ob nun in der Fotografie das Abbild einer Lebenswirklichkeit gesucht wird (Iren Stehli) oder Oberflächen als «Debütantinnen der Fotografie» hinterfragt werden (Katalogtext Surfaces) – die beiden Ausstellungen zeigen unterschiedliche Aspekte des Umgang der Fotografie mit dem sie Umgebenden. Mit der Ausstellung «Deposit – Yann Mingard» im Fotomuseum, wo der Westschweizer Fotograf Yann Mingard die Sammel- und Archivierwut unserer säkularen Gesellschaft dokumentiert, werden diese Ansätze zusätzlich um den Aspekt nüchterner Wissenschaftsfotografie erweitert. Alles aus Schweizer Sicht.
(Beitragsbild: Aus der Serie «Libuna», Prag, 1978 © Iren Stehli / ProLitteris)
Iren Stehli – So nah, so fern. Bis 25. Mai in der Fotostiftung Schweiz. / 13. April, 11.30: Iren Stehli im Gespräch mit Karin Salm.
Surfaces – Neue Fotografie aus der Schweiz. Bis 24. August in den Sammlungsräumen des Fotomuseums Winterthur. 14. Mai, 18.30: Fokus «Bilder denken Bilder». Mit Theresa Gruber.
Deposit – Yann Mingard. Bis 25. Mai im Fotomuseum Winterthur. 30.April, 18.30: Fokus «Schöne neue Welt? Yann Mingards Projekt ‹Deposit›». Mit Astrid Näff.