Flüchtlinge in der Zeichenhölle
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In der hintersten Ecke des Raums im Architekturforum drängen sich angstvolle Gesichter und Figuren. «I’m an immigrant» steht in einer Sprechblase, daneben die Frage: «Wie wird es sein, zu fliehen?» Wie es sein wird, zeigt sich an der Wand ums Eck: Frauen, verschleiert, mit schreckhaft aufgerissenen Augen, irgendwo wieder eine Sprechblase: «Ahoi, Frauenhandel».
Die «Drawinghell», die Zeichenhölle, das Markenzeichen der St.Galler Illustratorin und Zeichnerin, wird auf diesen neuen Arbeiten tatsächlich zur Hölle, zumindest im düsteren hinteren Teil. Schon auf dem Weg dorthin legen sich einem dicht bemalte Papierbahnen in den Weg, vollgestopft mit mysteriösen bis monströsen Figuren nach der Art von Goyas Nacht-Schimären, darunter aber auch ein Baum mit Mutmacher-Trollen: «Sei unverzagt» – «hey, sei tollkühn und frei».
Labyrinth aus Tuch und Text
So plakativ hier angeklagt beziehungsweise aufgemuntert wird, so vieldeutig ist umgekehrt die Bildinstallation im vorderen Ausstellungsteil. Von der Decke hängen weisse Stoffbahnen, sie bilden ein enges Labyrinth, in das man eintreten kann und soll. In dessen Mitte leuchtet es blau, darum herum lotsen Textfragmente die Besucher durch die engen Wege zwischen den Stoffbahnen.
«Meine Haut liegt hier, aber meine Angst haben die Wellen verschluckt» steht einmal. Ein ander Mal: «Ich bin ein Frontexler». Und noch anderswo: «Don’t leave you.» Sich verlieren kann man hier, aber auch sich verstecken, Durchgänge und Auswege suchen, Begegnungen provozieren oder vermeiden. Im weissen Tuchlabyrinth ist es eher himmlisch als höllisch hell.
Singen, schreien, murmeln, beatboxen
Das kann sich aber noch ändern. Die Ausstellung ist, wie Vernissagerednerin Kristin Schmidt sagte, unabgeschlossen. Die Künstlerin arbeitet weiter – ein Bild kam bereits an der Vernissage hinzu, live gezeichnet zu Klängen von Enrico Lenzin und zu Gesang von Bettina Klöti. Die Sängerin mit dem Künstlernamen Betinko sang, schrie, murmelte und beatboxte in einer Lautsprache, die ans Arabische erinnerte, unversehens in eine Art Englisch kippte, eine Silbenmalerei, die ohne verstehbare Worte auskommt und doch schmerzhaft verständlich von der Not und dem Hinausgeworfensein der Menschen klagt.
Das Thema, so brennend es zur Stunde ist, treibt die Künstlerin seit langem um. Im Februar 2013 begann ihre Arbeit in der «Drawinghell» in der Hauptpost, deren Resultat auf Papier zum Teil in die jetzige Ausstellung integriert ist. Andere Teile entstanden diesen Sommer in Winterthur. Seit jeher interessiere sie, «was aus der Welt auf mich einprallt», sagt sie. An der Museumsnacht vom kommenden Samstag wird sie sechs Stunden lang weiterarbeiten.
Platz wäre da
Lika Nüsslis Installation im Architekturforum ist «low budget» zumindest, was die Materialien betrifft: Tücher, Karton, Holzleisten, Klebband, ein paar Baustrahler. Aus solchen Dingen werden anderswo provisorische Flüchtlingslager aufgebaut und wieder abgerissen.
Im Architekturforum wäre tatsächlich Platz für Obdachlose, in den weissen Labyrinth-Tüchern könnte man es sich sogar einigermassen wohnlich einrichten, wenn auch auf hartem Steinboden. Solche Assoziationen tauchten fast zwangsläufig auf an der Eröffnung, an jenem selben Tag, an dem in einem weissen Kühllastwagen in Österreich 78 Flüchtlinge erstickt sind.
«Also gut, ich mach heute Widerspruch» steht auf einer der langen Papierbahnen.
Lika Nüssli – Drawinghell Position 3: bis 20. September, Städtische Ausstellung im Lagerhaus, Architekturforum Ostschweiz, Dienstag bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr.
Performance «Songs For The Sirenes» und Super-Aktion «Rette meine Besucherzahlen!»: Samstag, 5. September (Museumsnacht) 18 bis 23.30 Uhr. Weitere Infos hier oder hier.
Eben erschienen ist die Solo-CD von Enrico Lenzin «Kling & Klang» mit Booklet-Illustrationen von Lika Nüssli.
Bilder: Lika Nüssli und Francesco Bartolomeoli