Fiktiver Autor, reale Romanfiguren

«The distinguished Citizen» der argentinischen Regisseure Gaston Duprat und Mariano Cohn ist ein doppelt komischer Film. Lustig und speziell. Heiter und tiefsinnig und eigentlich zwei Filme in einem.
Von  Frédéric Zwicker
Elitäre Dünkel? Dafür gibt es nichts als Spott.

40 Jahre war er nicht mehr da, und die Einladung des Bürgermeisters von Salas anlässlich des Stadtgründungsjubiläums soll ihn nicht zur Rückkehr bewegen. Auch wenn sie ihm die Ehrenbürgerwürde verleihen wollen.

Daniel Mantovani (Oscar Martinez, Darstellerpreis am Filmfestival Venedig), argentinischer Literaturnobelpreisträger und weltweit gefragter Mann, hat auf Weniges Lust. Reden und signieren bei der Herausgabe der Gesamtausgabe in Peking? – sicher nicht; Lesung im Waisenhaus in Zagreb?  – nein; Verleihung des italienischen Verdienstordens oder der Ehrendoktorwürde der Universität Yale? – absagen.

Dabei hat der Schriftsteller seit fünf Jahren nichts geschrieben. Nun, nicht nichts. Der Verleger habe wieder angerufen und gefragt, ob er zum Schreiben gekommen sei, sagt die Agentin. Er könne ihm seine gesammelten Schriften der letzten Jahre schicken, meint Mantovani. Briefe, Vorträge, Vorworte und sogar einige Nachrufe.

Salas scheint ihn doch zu jucken. Wann findet die Feier statt? Bereits in einer Woche? Nein, ich gehe sicher nicht. «Ich habe wohl mein Leben lang nur versucht, diesem Ort zu entkommen», sagt er. «Meine Charaktere konnten ihn nie verlassen, und ich konnte nie zurück.» Ein paar Tage später bittet er die Agentin, alle Termine abzusagen. Er fliege hin.

Gegenseitige Fiktionen

Die Regisseure Gaston Duprat und Mariano Cohn begeben sich in The distinguished Citizen auf die Spur von Romanfiguren. Wie viel reale Person steckt in einer Figur? Welche Rechte hat das Vorbild an der Fiktion?

Bei Mantovani und seinem Figurenkabinett ist die Unterscheidung besonders heikel, spielen seine Geschichten doch allesamt im provinziellen argentinischen Dorf seiner Kindheit. Und bei seiner Rückkehr wird schnell deutlich, dass sich die Einwohner von Salas durchaus mit Mantovanis Literatur identifizieren. Auch, dass sie damit teilweise alles andere als glücklich sind.

Und: Für die Leute aus Salas ist Mantovani mit seiner jahrzehntelangen Abwesenheit und seinem Weltruhm zu einer Art fiktiven Figur geworden. Das Aufeinandertreffen des Schöpfers und seiner Musen verspricht also einiges an absurdem Potential.

Die Frage nach dem biografischen Gehalt ist eine, die jeder Autor kennt und die die meisten scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Der Teufel Mantovani plumpst in Salas ins Weihwasserbecken, und bald ist es nicht mehr so sicher, ob er sich da wieder heil herausstrampeln kann.

Nobelpreisträchtige Belanglosigkeit

The distinguished Citizen beginnt doppelt grossartig: Zuerst mit der Dankesrede, die der Autor anlässlich der Verleihung des Nobelpreises hält. Freude sei da einerseits, andererseits und hauptsächlich aber Bedauern darüber, dass der Preis seinen Untergang als Künstler besiegle. Denn wenn sich die Kritiker und Experten und sogar ein König auf ihn einigen könnten, sei er zu angepasst und belanglos geworden.

Dann landet Mantovani in Buenos Aires und wird am Flughafen von Ramón aus Salas abgeholt, der einen Schleichweg kennt. Ein Reifen platzt, kein Reserverad im Wagen. Die zwei müssen die Nacht durchbringen, mitten im Nirgendwo. Da Ramón das Holz nicht zum Brennen kriegt, reisst Mantovani Seiten aus einem seiner Romane. «Was für ein kitschiges Bild: Ich verbrenne meine eigenen Bücher, um zu überleben.»

The distinguished Citizen: ab 13. April
im Kinok, St.Gallen
Infos und Spielplan: kinok.ch

Der steinreiche Mantovani findet sich in seiner Heimat in der Situation des erfolglosen Poeten aus Carl Spitzwegs berühmtem Bild Der arme Poet wieder, der in seiner kalten Kammer alte Manuskripte verbrennt, während er im Bett am neuen schreibt. Eines von vielen neckischen Paradoxa, die sich durch den Film ziehen.

Am nächsten Morgen reisst der Fahrer eine weitere Seite aus dem Buch und entschuldigt sich, bevor er sich hinter die Büsche verzieht. Das österreichische Enfant Terrible der Literatur, Thomas Bernhard, hat einmal in einem Fernsehinterview Folgendes über das Geschäft mit der Literatur gesagt: «Die meisten Bücher werden nur gedruckt, weil die Papierindustrie mit der Produktion von Toilettenpapier nicht ausgelastet ist.»

Mantovani bleibt wirklich nichts erspart. Und das ist erst der Anfang.

Bitterböses Ende

Ein äusserst erfolgreicher Künstler als Protagonist, das ist erfrischend. Gar zu häufig interessieren sich Independent-Filmer – wohl auch autobiographisch bedingt – für die Geschichten missverstandener, leidender Künstler.

Die Konsequenzen dieses Erfolgs sind allerdings nicht nur positiv, wie die Figur Mantovani unmissverständlich zeigt. Als ihn eine sehr junge Frau in seinem Hotelzimmer in Salas besucht, nimmt das Unheil, das sich bis dahin tropfenweise angekündigt hat, seinen rasenden Lauf.

Der Film wirft tiefgründige Fragen auf, was die künstlerische Arbeit und deren Erfolg betrifft. Die Zeit in Salas, der Hauptteil des Films, gestaltet sich dann etwas gar augenscheinlich als Aneinanderreihung von Zumutungen für den Autor, denen er mehr oder weniger souverän begegnet; überzeichnete Figuren übernehmen das Szepter, machen den Film zur heitereren Komödie, das Lachen verliert an existentiellem Gehalt.

Trotzdem ist The distinguished Citizen ein sehenswerter, sehr lustiger Film, der überdies phantastische Bilder aus der argentinischen Kleinstadt Salas bietet. Und dann ist da noch dieses Ende. Dieses bitterböse Ende.