Fellini trifft Handke
Am Ende wurde der Abend zu einer Demonstration für Marco Santi: Bei der Premiere von „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ am Samstag im Theater St.Gallen gab es Bravos und heftigen Applaus für die ganze Kompagnie, am lautesten aber für den Tanzchef.
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Es war die erste Produktion nach Bekanntgabe seiner Nichtverlängerung – und auch auf der Bühne erlebte man so etwas wie eine vorgezogene Abschiedsvorstellung, auch wenn Santi erst in einem Jahr geht.
Handkes Stück ohne Worte (es besteht aus lauter Regieanweisungen) nimmt Santi als Steilvorlage, um die Kompagnie in ihrer Vielfalt und Eigenwilligkeit zu zeigen. Solo, in Duos, Trios oder Gruppen erobern die Tänzerinnen und Tänzer den Platz, der im Stück die Hauptrolle spielt. Bei Santi wird er zum Ort der kurligen, poetischen, athletischen und traurigen Begegnungen. Da saust eine Hochzeitsgesellschaft über die Bühne, der Bräutigam per Velo, zwei junge Männer tanzen einen oberschrägen Tango, ein Fussballfan schwingt die Deutschlandfahne, ein Teppichhändler zeigt seine Waren und Kunststücke, eine Zirkustruppe zaubert, ein Junge trägt ein Topfbäumchen herbei. Eine Frau und ein Mann finden sich, andere verfehlen sich.
Fellini hätte das nicht schöner hingekriegt, diese leichtfüssigen und poetischen Bilder aus dem nicht ganz gewöhnlichen Leben, begleitet vom einfühlsamen Livesoundtrack der Musiker Roderik Vanderstraeten und Sasha Slain. Und dazwischen immer wieder der Tod. In Gestalt der blütenweiss gekleideten Cecilia Wredemark taucht er auf und ab, umgarnt in einer der zauberhaftesten Szenen einen Blinden, bläst mit seinem Todeshauch für Momente die ganze Gesellschaft hin und her über die Bühne. Und hat auch das letzte Wort.
Nicht zu vergessen der Platzwart. Vor zehn Jahren, als Dodo Deer dasselbe Stück schon einmal, damals outdoor auf der Strasse vor dem Picobello-Platz in der St.Galler Altstadt inszenierte, war diese Rolle Albert Nufer auf den Leib geschnitten. Hier ist David Schwindling der Strassenkehrer mit traurigem Clownsgesicht und der Fähigkeit, die tollsten Tierfiguren als Fingerschattenspiel an die Bühnenwand zu zaubern.
Man merkt: Das Ensemble hatte viel Freiheiten, seine eigenen Figuren zu entwickeln und auszuspielen. So fehlt zwar der rote Faden, das Stück reiht Episode an Episode. Doch dafür kommt die grosse Qualität von Santis Choreographie-Arbeit zum Tragen: Er holt aus jedem und jeder das Stärkste heraus und gibt seiner Kompagnie jene Wertschätzung, die er selber von Seiten der Theaterleitung zu oft vermisst hatte. Kein tiefgründiger, aber ein herzwärmender Tanzabend.
Nächste Vorstellungen: 20. und 25. März. Bilder: Tanja Dorendorf