Familie Brunner und die letzten Europäer

Das Jüdische Museum Hohenems verbindet in einer Doppelausstellung den Nachlass der Familie Brunner mit einem kritischen Blick auf den heutigen Zustand Europas. Was die Krise der europäischen Idee mit einem Pferdefuss zu tun hat.
Von  Roman Hertler
(Bild: PD)

Die Europäische Gemeinschaft hat sich während der Coronazeit weiter auseinanderdividiert. Fremdenfeindliche Ideologien und Nationalismen sind im Aufwind. «Die Werte der Aufklärung, die die Grundlage europäischer Verständigung nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bildeten, werden in ihr Gegenteil verkehrt und so zum Mittel der Abschottung und der Ausgrenzung», heisst es im Ankündigungstext zur neuen Ausstellung im Jüdischen Museum in Hohenems (JMH).

2014 hat das JMH bereits die Ausstellung Die ersten Europäer gemacht, in der proto-europäische jüdische Biografien, Kulturtransfer und transnationale Lebenswelten im Habsburger Reich vorgestellt wurden. «Eine Welt, die im Ersten Weltkrieg unterging», erklärt Direktor Hanno Loewy. «Diese Geschichte wollten wir bis in die Gegenwart fortschreiben und den heutigen Zustand Europas kritisch beleuchten.»

Die letzten Europäer – Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee & Nachlass Familie Brunner:
4. Oktober 2020 bis 3. Oktober 2021, Jüdisches Museum Hohenems

lasteuropeans.eu

jm-hohenems.at

Vor vier Jahren starb Carlo Alberto «Cabetto» Brunner, kurz darauf seine Frau. Seine Nachkommen beschlossen, den Nachlass als Dauerleihgabe dem JMH zu überlassen. «Wir hatten schon lange vor, einmal eine Ausstellung über die Familie Brunner und Triest zu machen. Bald war klar, dass die Familiengeschichte und unser Europa-Projekt zusammenpassen.» So wurde aus zwei Ausstellungen eine.

Geografische und idealistische Verwehungen

Räumlich ragen die beiden Aspekte ineinander. Im Untergeschoss ist jener Teil untergebracht, wo all das thematisch entfaltet und der Gegenwartsbezug hergestellt wird, was auch die Familie Brunner umgetrieben hat: Minderheitenrechte, Sprachen, Multikulturalität, Flucht, Holocaust, Faschismus, Krieg. Die Exponate aus dem Nachlass werden in einer riesigen Vitrine präsentiert, die vom Untergeschoss bis in den ersten Stock reicht.

Cabetto Brunner, zuvor Katholik, war ziemlich der einzige der Familie, der in den 1970er-Jahren von Triest nach Israel zog. Er wollte das Judentum für sich neu entdecken, ist rekonvertiert, hat kurz in einem sozialistischen Kibbuz gelebt, geheiratet und sich nahe Tel Aviv niedergelassen. In einem Buch hat er die Familiengeschichte aufgearbeitet, über das Judentum reflektiert und die Entstehung der ethnisch fundierten Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg scharf kritisiert. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Freigeist Israel als «Monster», schreibt gleichzeitig aber auch gegen Sozialismus, Kapitalismus und Rassismus an.

Beim Brunner-Nachlass handelt es sich im Wesentlichen um Gegenstände, die eine europäisch-bürgerliche Familie üblicherweise ansammelt: Studienbibliothek, Familiengemälde, Dokumente, Fotos, Briefe, Tafelsilber. Darunter befindet sich auch ein präparierter Pferdefuss der Stute «Trieste», mit der der junge Guido Brunner auf italienisch-nationalistischer Seite in den Ersten Weltkrieg zog. Sein Regiment wurde von der österreichischen Armee bei Asiago ausgelöscht. Guidos Leichnam wurde nie gefunden.

Sein Vater Rodolfo führte als Familienpatriarch mit seinen Brüdern die weitverzweigten Geschäfte in Triest und war habsburgtreu. Seine Frau Gina befürwortete als italienische Irredentistin den Anschluss Triests an Italien. Für den Tod ihres Sohns, der mit ebendiesem Ziel zur Waffe griff, machte Rodolfo seine Frau und deren nationalistischer Eifer verantwortlich. Er soll später kaum noch mit ihr geredet haben.

Spuren in St.Gallen

Die Familie Brunner hat auch in St.Gallen Spuren hinterlassen. Angefangen hat sie ihre Geschäfte in Triest in den 1830er-Jahren mit dem Import von St.Galler Textilien. Marco und Jakob Brunner aus Hohenems gründeten in St.Gallen das Bankhaus Jakob Brunner, das später zur Unionbank fusionierte und zuletzt in der UBS aufging.

Marcos Sohn Luzian war ebenfalls Banker in St.Gallen, zog dann nach Wien und wurde dort zum liberalen Widersacher des antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger. Mittlerweile hat sich die Familie in alle Winde zerstreut, trifft sich aber alle drei Jahre irgendwo auf der Welt – zuletzt 2017 in Hohenems.

Parallel zur Ausstellung wird das Museum vom 6. bis 11. Juni 2021 wieder zum offenen Debattenort. Die jährlich stattfindende Sommeruniversität für Jüdische Studien musste coronabedingt um ein Jahr verschoben werden und steht im Zeichen der «ersten und letzten Europäer».

Es beteiligen sich die Universitäten München, Basel, Innsbruck, Wien und Budapest. Erste Veranstaltungen in diesem Rahmen finden bereits diesen Herbst statt. So wird Hohenems ein Jahr lang zur «Very Central European University». Diskutiert werden nicht nur die reale und ideelle Substanz der Europäischen Union, aktuelle Gefahren und Chancen, sondern auch der historische Hintergrund: die europäische Aufklärung und deren Kinder in all ihren Facetten.