Experimentierfeld und Entwicklungshilfe für die freie Szene
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Theaterspektakel St. Gallen, Freie-Szene-Festival, Ostschweizer Theater-Zirkus-Fest oder so ähnlich: Die Auswahl an möglichen Namen für ein neues Theaterfestival wäre potenziell genauso riesig wie unerschöpflich an langweiligen und verbrauchten Namen. «Wir wollten mit dem Namen etwas Neues, etwas Eigenständiges, das in eine andere Richtung geht als bereits etablierte Theaterfestivals», sagt Michael Finger.
Der Theater-, Film- und Musikschaffende ist der künstlerische Leiter des neuen Paula Interfestivals, das im August in St. Gallen in der Grabenhalle, der Lokremise und auf der Kreuzbleiche erstmals stattfindet. Paula, was, wer, wie? Paula habe keine eigentliche Bedeutung, es sei einfach ein Name, der zu diesem eigenartigen Festival passe, so Finger. Einfach und einprägsam.
Paula will aber nicht einfach ein weiteres Theaterfestival sein, sondern ist per eigener Definition ein Interfestival. «Wir verstehen uns als interkulturell und interdisziplinär, weil wir Theater, Zirkus und Tanz aus verschiedenen Ländern zusammenbringen, aber auch als intersexuell im Kontext der Gender-Debatte und der Geschlechtervielfalt», erklärt der erfahrene Theatermacher. Paula ist ein Festival, das sich inhaltlich sowohl an die breite Öffentlichkeit richtet als auch als Ort der Vernetzung und Community-Building für die Szene selbst versteht.
St. Gallen steht schweizweit abseits
Paula steht auch für den Aufbruch der freien Ostschweizer Bühnenszene in eine neue Zeit. Seit Jahren sucht die freie Szene bekanntlich vergeblich nach einem permanenten Standort, einem Haus, wo freie Bühnenkünstler:innen aus der Region ihre Werke erarbeiten und aufführen können. «Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis wir ein eigenes Haus gefunden haben. Mit dem Paula-Festival wollen wir der Szene deshalb auch ohne fixe Location ein Gesicht und eine Plattform geben», sagt Finger.
Paula Interfestival:
16. bis 26. August, Grabenhalle, Lokremise und Kreuzbleiche St.Gallen
Im Gegensatz zu Städten wie Basel, Bern oder Zürich, wo die freie Szene mit der Kaserne, dem Schlachthaus, der Roten Fabrik oder der Gessnerallee völlig selbstverständlich über eigene und etablierte Räume und Treffpunkte verfügt, sei die Situation in St. Gallen genau umgekehrt. «Viele wissen nicht einmal, dass es uns gibt und wer wir sind. Diese Situation ist in der Schweiz leider einmalig», sagt Finger. Die meisten Künstler:innen aus der freien Szene, die im Raum St. Gallen leben und arbeiten, führen ihre Performances mangels Auftrittsmöglichkeiten deshalb ausserhalb der Ostschweiz auf oder kehren der Stadt als Wohn- und Arbeitsort gleich ganz den Rücken.
Mangelnde Räumlichkeiten und Wertschätzung sowie fehlende öffentliche Wahrnehmung haben nicht nur Abwanderung von Kreativität zur Folge, sondern verunmöglichen auch wertvolle künstlerische Impulse von aussen. Während nationale und internationale Theatergruppen und Einzelkünstler:innen die Stadt bisher aus den bekannten Gründen für Auftritte gemieden haben, setzt das Paula Interfestival programmlich genau deshalb den Fokus auf Gäste aus der ganzen Welt. «Die freie Szene ist über die ganze Welt verteilt, es gibt enorm viele und unterschiedliche Sprachen und Herangehensweisen in der Tanz-, Theater-, Performance- oder Zirkus-Welt.» Diesen in St. Gallen bisher nicht existenten kulturellen Reichtum will Paula im August während zehn Tagen sichtbar machen.
Interessierte können aktiv teilnehmen
International ausgerichtet ist beispielsweise das sogenannte «Laboratoire Paul», ein Teil der Veranstaltung, bei dem neun freischaffende Bühnenkünstler:innen aus unterschiedlichen Erdteilen in einer Art Labor während zehn Tagen zusammenarbeiten und Neues entstehen lassen. Die Programmgestalter:innen – nebst Michael Finger sind das Rebecca C. Schnyder, Dramatikerin und administrative Festivalleiterin, sowie Mara Natterer, Tänzerin und Co-Leiterin des «Laboratoire Paul» – hätten es sich ganz einfach machen und jeden Abend eine Podiumsdiskussion zu Themen und Herausforderungen rund um die freie Szene Ostschweiz veranstalten können. «Genau das wollten wir aber nicht. Paula soll ein Festival für Kontakte, Austausch und Ausprobieren sein», so Finger. Nicht nur reden, sondern produktiv sein ist das Motto.
Im Rahmen von «Laboratoire Paul» workshoppen und improvisieren die eingeladenen Künstler:innen gemeinsam während des gesamten Festivals und präsentieren ihre entstandenen Performances in unterschiedlichen Formationen und Formaten dem Publikum.
Zu den Formaten gehört beispielsweise der tägliche «Paula Mini Rave». Jeweils am frühen Abend sind Interessierte eingeladen, unter freiem Himmel eine halbe Stunde auf der Kreuzbleiche zu tanzen und zu schwitzen. Ein weiteres Highlight des Festivals zeigt die Berner Theatergruppe «Heitere Fahne», die in Kooperation mit externen Bühnenschaffenden die Heitere Herzblatt Show aufführt. Das Publikum kann an diesem Abend den Flirt, das Glück oder sogar die grosse Liebe finden.
Interessant ist auch der aus dem «Laboratoire Paul» stammende und für das Publikum offene Paula-Jam. An dieser einmalig durchgeführten Veranstaltung können Teilnehmer:innen anhand der sogenannten Kontaktimprovisation – einer zeitgenössischen Tanz- und Kunstform – den eigenen Körper experimentell erforschen und ihn mit fremden Körpern in Berührung und Beziehung setzen.
Vielversprechend ist aber auch das Programm abseits des Theater-Labors. Ein Highlight dürfte die zutiefst persönliche und dramatische Performance des israelischen Künstlers Amnon Barri werden. Der Zirkuskünstler verarbeitet in seinem Stück Ras Burqa die Ermordung seiner Schwester beim gleichnamigen ägyptischen Badeort am Roten Meer, eine Tragödie die er als Kind durchleben musste. Im Herbst 1985 schoss ein ägyptischer Soldat wahllos auf israelische Touristen und tötete dabei mehrere Erwachsene und Kinder. Ras Burqa ist ein Theaterabend, der den kleinen, aber einschneidenden und traumatisierenden Moment seines Lebens mit der langen Geschichte des Krieges im Nahen Osten erzählt. Die insgesamt drei geplanten Aufführungen in der Grabenhalle sind in der Art und Weise jeweils einzigartig und performativ unterschiedlich.
Festivalstadt und Begegnungszone auf der Kreuzbleiche
Spannend dürften auch die Cartes blanches werden, die im Rahmen von «(r)ostfrei» exklusiv an in der Region St. Gallen lebende und wirkende Künstler:innen vergeben werden. Kurator Michael Finger hat auf diese Produktionen allerdings keinen Einfluss und nimmt sich konzeptuell entschieden zurück. «Wir sind selber gespannt, was uns da erwartet», sagt er. Die einzige Bedingung: Die Arbeiten sollten nach Möglichkeit bisher noch nicht in der Region St. Gallen aufgeführt worden sein.
Im Unterschied zu den Spielorten Grabenhalle und den zwei parallelen Bühnen in der Lokremise bietet die Kreuzbleiche nicht nur eine weitere Bühne, sondern dürfte temporär ein lebendiger Ort und das eigentliche Herz des Festivals werden. Die Kreuzbleiche wird im August zur Festivalstadt und sozialen Begegnungs- und Flanierzone, auf der neben dem Paula-Zelt auch der Zirkus Chnopf seine Planen aufschlägt. In der Festivalbeiz «Pauli» gibt es Essen und Drinks sowie den «Paula-bis-in-die-Puppen-Stammtisch», eine wiederkehrende Performance lokaler Puppenspieler:innen, die jeweils aus dem Tag heraus auf die aktuelle Weltpolitik oder spannende Festival-Insights Bezug nehmen werden.
Festival als architektonischer Platzhalter
Die grosse Frage, die Michael Finger umtreibt: Haben die Menschen im Raum St. Gallen überhaupt Lust auf ein solches Festival mit einem derartigen Angebot? «Gerade weil die Szene noch nicht etabliert ist, existiert auch noch kein wirkliches Stammpublikum», so der langjährige Theaterregisseur. Das Paula Interfestival ist ein Experiment, ein erster Versuch, eine solche Szene in St. Gallen längerfristig zu etablieren, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein zu schaffen und den freien kreativen Menschen dahinter ein Gesicht zu geben. «Unser Ziel ist nicht eine Kopie des Theaterspektakels Zürich, aber wir hoffen, der Anlass hat früher oder später den gleichen kulturellen Stellenwert für die Stadt St. Gallen wie das Theaterspektakel für die Stadt Zürich.»
Der Sommer 2023 ist ein erster Versuch, ein neues Festival für eine noch mehrheitlich unter dem breiten öffentlichen Radar agierende Szene zu etablieren. Im Zweijahresrhythmus soll bereits 2025 die zweite Paula-Ausgabe folgen, solange bis die freie Szene eine feste Bleibe in der Stadt gefunden hat – und hoffentlich darüber hinaus. Das Paula Interfestival ist Platzhalter bis zur permanenten Beheimatung und gleichzeitig Initialzündung für die Zukunft der freien Theater- und Performance-Szene.