, 14. September 2017
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Europa: Was tun!

Die WOZ hat eingeladen zum Europakongress und viele kamen von überall her, dieses Europa zu diskutieren. Spoiler: es gibt linke Lösungen.

Moderiert von Stefan Howald (Woz) diskutieren Catarina Principe, Jakob Tanner und Saskia Sassen (v.l.n.r.) globale, kontinentale und nationale Fragen. (Bild: Woz)

Die Karibik wird von einem rekordverdächtigen Hurrikan heimgesucht, der von den einen Inseln das Meer wegzog, um es anderswo meterhoch wieder durch Städte zu jagen; die Alpen fliegen langsam auseinander; das deutsche Fernsehen glänzt mit Wahlkampf-Duellen aus der Vorhölle, worin sich einmal mehr die Frage stellt, ob es «links» überhaupt noch gibt; und hierzulande herbstet es so gewaltig, dass junge Menschen von «Angst um die eigene Altersvorsorge» quasseln, um sie in neoliberaler Manier denen, die bis dahin alt werden, ja nicht zu erhöhen. Dass die ohnehin häufig doppelbelasteten Frauen bei dem Vorschlag eine Rentenaltererhöhung in Kauf nehmen würden, macht die Diskussion nicht gerade schöner. Was das alles mit Europa zu tun hat: Ökonomie, Politik, Klima, will heissen: soziale Kämpfe.

Europa in der Krise / Links in der Krise

Besser gesagt noch geht es um linke Fragen zu Problemen, die uns von dem neoliberalen Konsens der Mitte in den Jahren seit dem vermeintlichen «Ende der Geschichte» 1989 eingebrockt wurden. Links ist aber keineswegs eine Einheit, die einig in Reih und Glied zur Übernahme der Herrschaft marschieren wollte, dazu ist links eben nicht rechts genug. Die Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts hinterliess neben einer gewaltigen Ratlosigkeit auch eine gesunde Vorsicht, ungeprüfte Parolen rauszuhauen. Während die Parteien gegen den Strom, auf der Stelle oder im Kreis ruderten, oder aber sich gänzlich mit der Scheisse treiben liessen, so geschehen mit einem Grossteil der europäischen Sozialdemokratie, köchelt unter dem Deckel vor sich hin, was ohnedies auf der Flamme lag. In kleineren und grösseren Eruptionen machten unterschiedliche Hypozentren zwischendurch auf sich aufmerksam, denn die Welt ist mit dem Mauerfall weder gerechter, noch friedlicher, noch nachhaltiger geworden. Im Gegenteil. Der neoliberale Westen ist mit dem Wegfallen der Sowjetunion bloss nicht mehr gezwungen, die sozialen Werte der Konkurrenz den eigenen Kund*innen auch zu garantieren.

Europa, der Kontinent, der einst aufgrund bescheuertster Konkurrenzkämpfe zwischen den ihn bevölkernden Imperien nichts besseres wusste, als gleich noch die Welt zu erobern und zu unterjochen, hatte schlussendlich das Spiel zu weit getrieben und versteht sich nun seit einigen Jahrzehnten als Friedensprojekt. Interessant dabei, dass es bei diesem Frieden darum geht, Europa vor sich selbst zu schützen. Fair enough, den Planeten und die Menschheit vor Europa zu schützen, wäre konsequenter gewesen. Aber immerhin.

Einigen Unbelehrbaren ist schon das zuviel, und sie suchen, da der traumatisierte Grossvater immer so mitreissende Geschichten erzählt, ihr Heil in der glorreichen Vergangenheit, als mann sich auf dem Kontinent noch gegenseitig in den Kopf schoss. Die Nationen sollen wieder her, Sprachen lernen ist ohnehin mühsam und die *beliebiges Nachbarland einfüllen* sind niemals so arbeitsam, kultiviert und gerissen wie wir *beliebigen Heimatskäse einfüllen*. Derweil ist Europa vieles, das zu problematisieren wäre: gegen Schutzbedürftige eine Festung, gegen Peripherieländer eine Bank, gegen bessere Ideen ein Museum und mehr als alles andere eine Wirtschaftsunion, deren solidarischer Charakter sich in starken Grenzen hält. Europa ist bisher kaum ein politischer Raum, der diesen Namen verdiente.

Wo also beginnen?

Zum Beispiel bei einer guten Zeitung. In einem zentraleuropäischen Land, wo auch schon Lenin, Bakunin und etliche mehr Schutz suchten und Revolutionen planten. Mit Stimmen von überall her, die versuchen, die Gemengelage einzuordnen, die Knoten zu lösen, die vielfältige Chose zu denken. Mit anderen Worten: Es war folgerichtig, dass die WOZ am vergangenen Wochenende im Zürcher Volkshaus zum Europa-Kongress lud, und das tat sie, wie sie alle Jobs erledigt, nämlich sachlich, zurückhaltend und qualitativ hochwertig. Fragen, welche die Journalist*innen seit Brexit etc. umtrieben, wie der charmante Gastgeber Kaspar Surber die Idee zum Kongress erklärt, wurden von Protagonist*innen debattiert, für einmal nicht durch Druckerschwärze vermittelt, sondern unmittelbar, in einem seriösen Gewusel, von Angesicht zu Angesicht – ein lobenswertes Unterfangen. Social Media gewissermassen, nur ohne Filterbubble und Algorythmus.

Rohit Jain, Maria Stepanowa, Milo Rau und Cédric Wermuth. (Bild: Woz)

Das Programm liess sich sehen. Alle Teilnehmer*innen waren Headliner, alle Podien und Workshops relevant, die Diskussionen mehrstimmig, tiefgehend-pointiert und konstruktiv. Und dies bei «bestem Kongresswetter», Veranstalterslang für «du wirst nass beim Rauchen». Den Auftakt machten am Freitagabend unweit der gerade aufwachenden Langstrasse Saskia Sassen, Jakob Tanner und Catarina Principe zur Frage «Ist Europa noch zu retten». Ece Temelkuran hätte eigentlich mitdebattieren sollen, europäische Visa-Politiken verhinderten dies, womit allfällige Heile-Welt-Vorstellungen und Werte-Debatten allerspätestens vom Tisch waren. Solche Verrücktheiten waren aber ohnehin unter dem Niveau der Veranstaltung. Weil: Substanz.

Die Ökonomin Sassen stieg ein mit einem Rundumschlag gegen die Funktionsweise der Weltpolitik, fundiert, belegt und eloquent. Tanner zog nach mit einer historischen Betrachtung des Churchill-Besuchs 1946, Principe, die spontan eingesprungen war für Temelkuran, schloss mit einem Plädoyer dafür, den Rahmen des Nationalstaats unbedingt weiter zu nutzen. Das zog Diskussionen nach sich, Tanner reagierte mit dem Faktum, dass Nationalstaaten «zu gross sind für kleine Probleme und zu klein für grosse». Was in schweizerischen Ohren sehr befremdlich klang, erklärte die portugiesische Aktivistin am zweiten Tag. Der Ausverkauf des Service-Public zwinge uns weiterhin, innerhalb dieser unerfreulichen Grenzen zu agitieren.

Wirtschaftswunder und Prekarität

Principe war es auch, die das Stichwort der Prekarität in die Tagung einbrachte, und gleich zwei denkwürdige empirische Beispiele hinterherschickte: die sog. Bullshitjobs und die Sorgearbeit. Hätten zu Beginn ihrer Agitation weder Callcenter-Angestellte noch Pflegerinnen sich mit dieser Bezeichnung wohl gefühlt, so sei inzwischen jeden Tag in der Zeitung davon zu lesen. Es konnte ein wichtiger Begriff der Analyse und Kritik der gegenwärtig vorherrschenden Produktionsweise etabliert werden, das heisst: Theorie ad hominem bzw. ad feminam zu demonstrieren und dadurch radikal und praktisch werden zu lassen. So stellte der junge Marx sich das vor, um Klassenbewusstsein für die proletarisierten Massen zu schaffen, so funktioniert das heute, was die Prekarisierung betrifft.

Das «Deutsche Wirtschaftswunder», das mit Kanzler Erhard, dem frühen Neoliberalisten begann und in Schäubles «Schwarzer Null» und dem Exportüberschuss ihr zeitgenössisches Paradigma findet, wurde von allen gleich bewertet. Hartz IV, ein Paradebeispiel für Prekarität, zeigt das Wunder deutlich als Klassenkampf von oben. Raul Zelik brachte anschliessend an die Prekaritätsfrage, die er mit Beispielen aus Ostdeutschland ergänzte, die wichtige Ebene der Psyche in die Debatte. Auch der Grat zwischen Selbstwert und Wahnsinn ist mit der Prekarisierung prekär geworden, so macht es auch Sinn, dass seit dem Arabischen Frühling vermehrt die Würde politisch thematisiert wird. Rohit Jain fragte schliesslich nach den Affizierungen, die es zwingend zu beachten gilt. Ohne Affekte gibt es auch für Prekarisierte keine Gründe, hinter dem vermutlich kalten Ofen hervor zu kommen.

Die Frauen fragen!

Mit dem Input von Agnieszka Dziemianowicz-Bak, die vom polnischen Widerstand gegen das erzkonservative Abtreibungsverbot erzählte, kam das Mobilisierungspotential von Frauenfragen auf den Tisch. Das hat seine Logik: Die Generation, welche für die Einführung heutiger hegemonialen Wirtschaftspolitiken verantwortlich zeichnet, schwurbelte noch von der individuellen Reproduktion, bloss um das kollektiv Grundlegende im Privaten zu versorgen, wenn nicht ganz zu ignorieren. Zwischenzeitlich konnten etliche rechtliche Fortschritte erzielt werden, der Kapitalismus bleibt aber eine zutiefst patriarchal konzipierte Angelegenheit.

Frauen stehen an vorderster Front der Prekarisierungspolitiken, und Vollbeschäftigung zu fordern ist sicherlich keine befriedigende Antwort darauf. Sobald konservative Kräfte an die Macht kommen, und das war grad ein paar Jahre in Mode, geht das jeweils sofort auf Kosten der Gleichberechtigung. Dass häufig genug migrantische Frauen zu doppelt und dreifachprekären Bedingungen die wichtigsten Jobs der Gesellschaft wahrnehmen, zwingt zusätzlich dazu, diese Affektketten auf dem gleichen globalen Rahmen zu betrachten, auf welchem der Kapitalismus, der sich niemals um Grenzen scherte, auch agiert.

Stefan Howald, Teresa Pullano, Andreas Gross, Agnieszka Dziemianowicz-Bak und Thomas Seibert. (Bild: Woz)

Nekane Txapartegi sitzt währenddessen sehr nahe vom Volkshaus in einem Züricher Knast* und muss sich vor einer Auslieferung nach Spanien fürchten, obwohl sie in einem spanischen Knast gefoltert und vergewaltigt wurde – von Bullen – weil sie Baskin ist. Die ehemalige Gemeinderätin aus Asteasu nahe San Sebastián, an deren Situation eine Intervention des Solidaritätskomitees Free Nekane erinnerte mit einem Brief der politischen Gefangenen, war auf den Podien gewissermassen die grosse Abwesende. Das Paradox, entweder eine traumatisierte Person durch die erneute Inhaftierung psychisch unnötig zu quälen und durch die allfällige Auslieferung ernsthaft in Gefahr zu bringen (ihre Peiniger laufen frei herum), oder aber einen europäischen Staat qua Ablehnung des Auslieferungsgesuchs offiziell als Folterstaat zu erklären, lässt auf einen europäischen Abgrund blicken, der vermehrt zu thematisieren wäre: Europäische Geschichte ist eben auch eine Geschichte des Faschismus, nicht nur in Spanien, Italien und Deutschland, und dessen Aufarbeitung müsste alle angehen. Der Staatenbund hat zwar den kontinentalen Frieden gebracht, diese Frage aber jedenfalls nicht abschliessend beantwortet.

Die Realität des Rassismus

Das Podium zu der Frage nach «europäischer Identität» war in mindestens einer Hinsicht sehr erhellend. Cédric Wermuth erzählte von einem Symposium in Namibia, wo er feststellte, dass dieses Europa gar nicht mehr so verdammt wichtig ist. Der Grenzkonflikt zwischen Indien und China oder der Tod Fidel Castros lägen da schlicht näher. Rohit Jain weiss ähnliches zu berichten von einer Begegnung mit einem Professor in Delhi, der sich darüber beklagte, dass man hier über der Unterwäsche von Promis doktorieren könne und Indien die besten Leute in dieses Europa schicke. Wo einerseits ein kritisch zu betrachtender Hindu-Nationalismus mitschwingt, lässt sich ein Dekadenzdiskurs vergleichbar mit dem Untergang Roms eruieren. Man muss den Vergleich nicht mögen, mit einiger Sicherheit werden wir aber die Zeit noch erleben, wo Europa nicht mehr als Massstab aller Dinge gelten wird.

Die Lyrikerin Maria Stepanowa dekonstruierte weitere Vorurteile, wie die Idee, dass Europa hinter der Ukraine zu Ende sei. Sie habe sich immer als Europäerin gefühlt, und Russland ist kulturell dermassen stark von Europa geprägt, wie Europa auch von Russland geprägt ist. Es würde allenfalls helfen, das Putin-Regime als durchaus europäisches Pänomen zu betrachten. Rokhaya Diallo gab eindringlich zu bedenken, dass der Reichtum Europas im Wesentlichen auf Rassismus, Kolonialismus und Sklaverei beruhte. Deshalb ist es auch so wichtig zu akzeptieren, dass Europa heute kein «weisser» Kontinent mehr ist. Dem liess sie eine sehr berechtigte Medienschelte folgen, die Art, wie über Minderheiten geschrieben wird, bzw. das Fehlen deren Stimmen in weiten Teilen der Presselandschaft geben so ein verzerrtes Bild der Realität wieder.

Hoch die transnationale Solidarität!

Obwohl das eigentliche Schlusswort dem Ökonomen James K. Galbraith überlassen wurde, war es die Intervention des spanischen Aktivisten Tom Kucharz kurz zuvor, welche die Tagung inhaltlich auf den Punkt brachte. Die aus den Bewegungen gewachsenen Munizipalismen der Metropolen sind es, welche als vielversprechendste linke Projekte den neoliberalen Diktaten am entschiedensten entgegenstehen, die Rassismen der Nationalstaaten bekämpfen und als Re-demokratisierung der so wichtigen städtischen Räume demonstrieren, dass eine lebensnahe und ergebnisreiche linke Politik möglich ist, was die leeren Signifikanten der Sozialdemokratie eines Martin Schulz alt aussehen lässt.

Der Europakongress war ein Schritt auf dem Weg zum Verfassen eines politischen Europas. Solche Schritte wird es tausende brauchen. Was Rául Sánchez Cedillo und Toni Negri im Geiste der Indignados forderten – den konstituierenden Prozess für Europa –, wird im Volkshaus am deutlichsten von Thomas Seibert vertreten (im Saiten-Interview hier), dem Aktivisten und Philosophen, der mit dem Institut für solidarische Moderne z.B. an der Vorbereitung einer rot-rot-grünen Regierung in Deutschland arbeitete.
Könnte ein reiner Philosophiekongress möglicherweise utopisch, altgriechisch und wenig alltäglich daherkommen, so könnte ein journalistisch-«realpolitischer» Fokus zu einem Affentheater des vermeintlich Konkreten verkommen. Die aktivistische Neuerfindung von Europa, die linke Reformation in mehrerlei Hinsicht, wird aber sowohl das Unmittelbare als auch das Träumerische, Poetische und Abstrakte brauchen. Dem von der WOZ initiierten Austausch ist das geglückt, das Beispiel soll Schule machen.

Die Podien können ab nächster Woche unter europakongress.ch als Audios nachgehört werden. Lohnt sich!

*Wie das Komitee Free Nekane und am 15.September bekannt gibt, ist Nekane Txapartegi nach 17 Monaten Inhaftierung freikommen. Ein spanisches Gericht habe die Verjährung anerkannt und die Information der Ch-Behörden angeordnet. Diese haben sie nun nach einem zwischenzeitlichen «Verwirrspiel» (am Freitagnachmittag hiess es, ihr drohe die Abschiebung), wie der Tagesanzeiger berichtet, freigelassen.

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