«Europa steckt in der Krise, es braucht jetzt Eurodance aus der Schweiz»

Jessica Jurassica hat eine erotische Fan-Fiction über Alain Berset geschrieben und bringt im Oktober mit DJ Netlog das Album «CAPSLOCK SUPERSTAR» heraus. Wir haben sie in Frauenfeld, wo die beiden proben, auf einen Weisswein getroffen.
Von  Corinne Riedener
Jessica Jurassica. (Bild: co)

Saiten: Als wir dich für dieses Interview angefragt haben, sagtest du: «Geil, endlich mal kein Mainstream-Medium!» Was ist das Problem mit den Grossen?

Jessica Jurassica: Die Tamedia zum Beispiel ist ein total fragiler Haufen. Als ich meine erotische Fan-Fiction mit Alain Berset veröffentlichte, hat sich «20 Minuten» gemeldet. Sie fanden, ich müsse ihnen dankbar sein für die Publizität, dabei gibt es ja für dieses Blatt nichts Besseres, als «Bundesrat» und «Sex» in einem Satz schreiben zu können. Geschenkt. Und dann der Titel: «Frau schreibt über fiktive Sex-Abenteuer von Alain Berset.» Mich können sie nicht als «Autorin» bezeichnen, aber das Insekt im Print-Artikel daneben betiteln sie ganz selbstverständlich und sehr spezifisch als «asiatische Hornisse» und framen sie auch noch richtig furchteinflössend. Viele andere Medien haben die Meldung dann übernommen. Das Echo war gross, aber zum Glück war der ganze Hype nach einigen Tagen wieder vorbei.

Auch in den Sozialen Medien, wo du dich ja oft und gern bewegst?

Da blieb es vergleichsweise ruhig. Es blieb bei Sätzen wie: «Dich sollte man ausschaffen!» Wohin denn? Zurück ins Appenzell? Ansonsten beschränkte sich die Kritik auf meine Anonymität. Was ganz okay ist, schliesslich trage ich meine Maske auch aus Selbstschutz.

Jessica Jurassica: Die Verbotenste Frucht im Bundeshaus, erscheinen bei die yungen huren dot hiv corporate trash erotica books,

PDF und Hörbuchversion, gelesen von der Autorin: hier.

Wie kamst du drauf, einen Berset-Porno zu schreiben?

Ich hatte dieses Trash-Erotik-Buch in den Fingern, Drei Playboys zum Verlieben, las es in einem Tag durch – und fand es toll. Die Autorin, sie schreibt ebenfalls unter Pseudonym, hat auf ihrer Website ein Tutorial, wo sie erklärt, wie man solche Storys aufbaut und schreibt. Das ist ganz einfach: Du brauchst zwei Charaktere, alle andern sind nur dazu da, um diese zu stützen. Natürlich besteht eine krasse Anziehung zwischen den beiden, es kommt zu einem Konflikt, intern oder extern, alles spitzt sich irgendwie zu und am Schluss gibt es ein Happy End. Ordentlich Drama muss natürlich auch rein – bei mir passiert das im Kapitel mit den Medien.

Das ist ja ein entscheidender Aspekt meiner Geschichte: Es geht auch um Medienkritik. Das haben viele vor lauter Sex gar nicht realisiert. Dieses Genre hat ja null literarische Legitimation, es wird als Trash oder Hausfrauenliteratur abgetan – eine misogyne und klassistische Haltung. Es gibt auch da wirklich gute Texte, die für mich nicht weniger literarischen Wert haben als irgendein hyperkomplexes lyrisches Werk von irgendeinem Literatenarschloch, das von der Literaturkritik gefeiert wird.

Zum Thema Medienkritik: Was wäre denn deine Vision eines zeitgenössischen Mediums? Wie müsste das funktionieren?

Schwer zu sagen. Ich weiss, wie es nicht funktionieren sollte: nicht so kapitalisiert, nicht ständig unter Zeitdruck, nicht nur der Aufmerksamkeitsökonomie unterworfen. Wir haben in Bern auch ein Kulturmagazin gegründet: KSB. Unsere Maxime ist, dass wir Freude an der Sache haben und das machen, was uns wirklich interessiert. Wir sind sehr nah an der lokalen Kulturszene und arbeiten ehrenamtlich, deshalb gehen wir mit einer Sorgfalt und einer Genauigkeit an unsere Texte heran, die den grossen Medien mit den ganzen Zusammenlegungen immer mehr abhandenkommt.

Lange gab es in Bern zwei Zeitungen, zwei Stimmen, den «Bund» und die BZ – das ist wichtig für eine Stadt. Heute haben beide meist dieselben Artikel, oft auch eingekauft, zum Beispiel von der «Süddeutschen», in denen ohnehin nur misogyner Bullshit steht, und es wird wohl kein Jahr mehr dauern, bis diese beiden Blätter auch zusammengelegt werden.

2018 hast Du den Schreibwettbewerb des Kantons Appenzell Ausserrhoden gewonnen, mit dem Geld wolltest du «Heimatliteratur» machen. Der Berset-Porno ist doch genau das.

Ja! In meiner Twitter-Bio steht – quasi als selbsterfüllende Prophezeiung: «Heimatliteratur und Ficktexte als gäbs kein mañana.» Andererseits: «Heimatliteratur» ist auch ein extrem ausgelutschter Begriff, der Literaturbegriff allgemein ist ausgelutscht. Und die Szene auch ein bisschen konservativ.

Das, was ich mache, ist wohl für viele ein kleiner Affront. Gerade in der Ostschweiz bin ich mit meiner Art schon noch nicht ganz angekommen, habe ich den Eindruck. Auch weil viel davon im Internet stattfindet und man meine Sachen nicht anfassen kann. Und ich sollte ja eigentlich auch gar nicht in den grossen Medien erscheinen, denn ich transportiere ja eine subkulturelle Ästhetik, die in einem klassischen Kulturbegriff nicht vorgesehen ist. Ich behaupte halt einfach, dass ich da meinen Platz habe, das kann im Kontext dann schon störend und irritierend wirken.

Wenn ich «Heimatliteratur» sage, geht es mir um die Demontage dieses langweiligen Begriffs. Und auch um die Aneignung dessen, was eigentlich für diese grossen, intellektuellen Männer reserviert ist, literarische Instanzen wie etwa Max Frisch damals oder heute Lukas Bärfuss. Wenn ich sowas in meine Twitter-Bio schreibe, dann stelle ich die Behauptung, dass mir diese Bezeichnung auch zusteht, solange in den Raum, bis sie wahr wird.

Nächsten Frühling kommt dein erstes Buch.

Die Medien bezeichnen zwar die Berset-Geschichte als mein Début, aber das richtige kommt dann im Frühling bei lectorbooks, ja – so richtig mit Hard-Cover. Die Leute werden es wohl als Pop-Literatur labeln, weil ich über Drogen schreibe und Worte wie «ficken» benutze. Aber das ist auch eine ausgelutschte Bezeichnung. Jedenfalls ist es eine Art autofiktives Reisetagebuch, das auch viel Analyse und Gesellschaftskritik beinhaltet und in welchem ich mich auch mit meiner Herkunft, also dem Appenzeller Hinterland auseinandersetze.

Du warst letzten Herbst zwei Monate in Buenos Aires. Was hast du dort über die Ostschweiz gelernt?

Dass die Schweiz – und der Osten im Besonderen – ein sehr konservatives, misogynes Shithole ist. In Argentinien gibt es auch massive Missstände, Militärputsche, Diktaturen, Femizide und so. Aber das Frauenstimmrecht gab es dort einfach mal etwa 100 Jahre früher. Oder dass politische Veränderungen auch schnell gehen können. Dort wird alle vier Jahre alles komplett umgekrempelt. Natürlich ist es schön, dass die Schweiz eine so stabile Demokratie hat, aber andererseits ist unser System auch extrem schwerfällig.

Jessica Jurassica, 1993, ist Literatin, Musikerin, Künstlerin und arbeitet an einer Bar. Sie ist im Appenzeller Hinterland aufgewachsen und lebt seit sieben Jahren in Bern.

In Argentinien haben sie zum Beispiel innert einem Jahr eine gesetzlich verankerte 30-Prozent-Frauenquote an Musikfestivals durchgeboxt. Davon können wir hier nur träumen. Auch Homosexualität ist dort viel sichtbarer, zumindest in den Städten, und um gendergerechte Sprache wird auch nicht so ein Tamtam gemacht wie bei uns. Kurz: Argentinien ist kosmopolitischer als die Schweiz. Hier haben wir immer das Gefühl, wir seien fortschrittlich, weil wir so reich und demokratisch sind, aber das stimmt überhaupt nicht. Man kann ja kaum von einer Demokratie sprechen, wenn in Innerrhoden ein Teil der Bevölkerung erst seit den 1990er-Jahren ein Stimmrecht hat.

Nebst Schreiben und Spoken-Word-Performances machst du auch Musik. Im September kommt CAPSLOCK SUPERSTAR heraus, zusammen mit DJ Netlog. Wie kams dazu?

Bis vor etwa zwei Jahren war ich immer auf der passiven Seite, hing groupiemässig mit den Boys rum, hatte meine Boyband-Crushes. Irgendwann habe ich die Seiten gewechselt und selbst begonnen, aktiv zu werden und mir Skills anzueignen. Das war ein Emanzipationsprozess. Plötzlich merkte ich, dass ich das ja auch kann, Musik machen. Ich bin da aber noch fest im Experimentiermodus, es tun sich ständig neue Welten auf.

Jessica Jurassica & DJ Netlog: CAPSLOCK SUPERSTAR, auf den gängigen Streamingportalen und hier.

CAPSLOCK SUPERSTAR live:
16. Oktober, Palace St.Gallen, zusammen mit Jeans for Jesus
palace.sg

Auf deinem aktuellen Planeten läuft Eurodance.

Ja, dank Corona. Es waren eigentlich einige Auftritte geplant, aber als der Lockdown kam, hatten wir plötzlich wahnsinnig viel Zeit. Und dachten: Europa steckt in der Krise, es braucht jetzt Eurodance aus der Schweiz! Das war ein gutes Gegengewicht zu dieser verkopften, unsicheren Zeit. Geschrieben und produziert haben wir das Album in den ersten Lockdown-Wochen. Wir kamen in Hugelshofen in einem alten Haus bei einem Freund unter und haben uns von der Welt abgekapselt, was sehr gutgetan hat. Ich habe auch viel gelernt in dieser Zeit, weil ich vorher vor allem live unterwegs war und mich auch hinter der Musik verstecken konnte. Die Produktion eines Albums ist noch einmal etwas ganz anderes, an den Details zu arbeiten und meine eigene Stimme zu hören, die in einer sauberen Produktion schon sehr exponiert ist. Diese Exponiertheit und der ganze Lernprozess waren für mich ein weiterer Schritt im musikalischen Emanzipationsprozess.

Klingt, als hättest du etwas Mühe mit dem Rampenlicht.

Ich musste das lernen, ja. Wie gesagt war ich lange in der passiven Rolle – was für mein Schreiben wiederum ganz gut war, da ich sehr beobachtend funktioniere. Heute bin ich extrovertierter und selbstsicherer, das war schon ein Prozess. Keine Ahnung… Vielleicht würde ich keine Maske tragen, wenn ich heute mit dem Schreiben oder der Musik anfangen würde.