«Es wird zu Engpässen kommen»

Saiten: Man könnte als Mieter eines Hauses, das zum Heizen und Kochen ausschliesslich Gas benutzt, bei der aktuellen Berichterstattung in Panik geraten. Wird das der Winter der dicken Pullover? Haben Sie sich persönlich schon einen Holz- und Kerzenvorrat zugelegt?
Peter Graf: Nein, das habe ich nicht. Im Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnen, haben wir eine Wärmepumpe. Die ist zwar im Februar ausgestiegen, wir mussten vorübergehend rein elektrisch heizen. Da eine Gasmangellage auch einen Einfluss auf die Stromproduktion hat, wären aber auch wir persönlich davon betroffen.
Erhalten Sie viele Anfragen besorgter Personen und Unternehmen?
Peter Graf, 1973, ist Betriebswirt HF und arbeitet seit 1993 bei den St.Galler Stadtwerken. Seit 2002 gehört er der Geschäftsleitung an und leitet den Bereich Energie, Verkauf und Marketing.
Im Moment erreichen uns pro Tag etwa zwei bis drei Anfragen rein. Sie wollen wissen, wo wir derzeit stehen und was wir tun können, damit die Gasversorgung sichergestellt bleibt.
Und was antworten Sie?
Zuerst einmal gilt es festzuhalten, dass europaweit grösste Anstrengungen unternommen werden, dass die Gasversorgung im nächsten Winter sichergestellt ist. Das passiert, indem man den Verbrauch reduziert und zum Beispiel bei der Stromgewinnung kurzfristig wieder von Gas auf Kohle umsteigt. Und indem man die Speicher europaweit füllt. Die Speicher in Deutschland sind schon heute zu gut drei Vierteln voll, da ist man also sehr gut unterwegs.
Welche Massnahmen können Haushalte und Unternehmen ergreifen?
Es gibt sogenannte geschützte und ungeschützte Verbraucher. Zu ersteren zählen zum Beispiel Haushalte, Spitäler, Pflegeheime, Blaulichtorganisationen, Trinkwasser- und Energieversorger. Bis diese Bezüger sich einschränken müssen, muss schon sehr viel passieren. Von so einer Situation gehe ich persönlich beim heutigen Wissensstand nicht aus.
Womit müssen die ungeschützten Verbraucher rechnen?
Das sind Industriegebäude, Sport- und Freizeitanlagen, Hotels und Restaurants, Büro- und Verwaltungsgebäude. Dort könnte es zu Einschränkungen von bis zu 20 Prozent kommen. Einige unserer grösseren Kunden verfügen über sogenannte Zweistoffanlagen: In der Regel nutzen sie Gas, können bei Bedarf aber auf Öl-Betrieb umstellen. Wir arbeiten derzeit ein Schreiben an unsere Grosskunden aus, in dem wir sie bitten, ihre Öltanks zu füllen, um im Notfall gerüstet zu sein.
Wer kontrolliert, dass diese Umstellung auch vorgenommen wird?
Eine direkte Kontrolle, ob die Betriebe auf Öl umstellen, haben wir nicht. Bei den grösseren Abnehmern wird der Verbrauch digital übertragen. Da sehen wir schnell, ob umgestellt worden ist. Bei den kleineren Betrieben geht es darum, dass sie sich eigenverantwortlich zum Wohle aller verhalten.
Die Stadtwerke haben die Gaspreise seit letztem November dreimal erhöht. Wie sieht es mit der Preisentwicklung aus?
Die Preissituation ist nach wie vor sehr angespannt. Bleiben die europäischen Gaspreise auf diesem hohen Niveau, werden die Preise vermutlich nochmals erhöht werden müssen.
In der Schweiz gibt es keine grossen Gasspeicher. Die Stadtwerke haben einen Röhrenspeicher auf dem Hohfirst bei Waldkirch. Wie lange reicht dieses Gas?
Diese Anlage ist nur dafür da, die Versorgungschwankungen kurzfristig auszugleichen. Im Winter würde der Vorrat für einen knappen Tag reichen. In der Tat sind wir im globalen Gasmarkt grösstenteils vom Ausland, insbesondere von Deutschland, abhängig und haben im Lokalen gar keine so grosse Handhabe.
Gasmengen
Die Schweiz verbraucht ca. 34 Terawattstunden Erd- und Biogas im Jahr, etwa so viel wie die Stadt Hamburg. Der Jahres-Gasverbrauch im Einzugsgebiet der St.Galler Stadtwerke – dazu zählen auch einige Nachbargemeinden und grössere Industriebetriebe – beträgt rund 850 Gigawattstunden.
Die Schweizer Gasbranche wurde vom Bundesrat beauftragt, eine physische Reserve von 6 Terawattstunden in den Nachbarländern vorzuhalten, also etwa jene 20 Prozent, an denen es im europäischen Netz diesen Winter mangeln könnte.
Hat die Politik versagt, dass wir in diese Abhängigkeit geraten sind?
Auf europäischer Ebene hat man vielleicht insofern versagt, als dass man sich einseitig in die Abhängigkeit von Russland begeben hat. Das versucht man jetzt mit Zukäufen von verflüssigtem Gas aus der Golfregion, den USA oder vom afrikanischen Kontinent zu korrigieren. Aber wie in der Schweiz und vor allem auch in Deutschland jetzt versucht wird, politisches Kapital aus der drohenden Mangellage zu schlagen, finde ich daneben.
Inwiefern?
Auf der einen Seite wird behauptet, wenn wir in den letzten Jahren mehr Photovoltaik-Anlagen gebaut hätten, hätte man jetzt keine Versorgungskrise. Auf der anderen Seite wird die Kernenergie wieder als Option ins Spiel gebracht. Wichtig ist es jetzt, den drohenden Versorgungsengpass mit kurzfristigen Massnahmen zu verhindern und sich auch darauf zu konzentrieren. Danach kann der ökologische Umbau mit aller Konsequenz vorwärtsgetrieben werden. Ein Richtungsstreit mitten in der Krise ist nicht zielführend. Denn diese kommt nicht nur aufgrund des Ukrainekriegs zustande, sondern auch, weil in Frankreich derzeit fast die Hälfte der Kernkraftwerke abgeschaltet oder nur reduziert betrieben werden können. Und dies führt in Kombination mit der Gaskrise zu Engpässen in der Gesamtenergieversorgung. Alles hängt zusammen.
Was kann die Politik in St.Gallen tun?
Ich finde, mit dem Energiekonzept 2050 sind wir sehr gut unterwegs. Wir müssen die Dekarbonisierungs-Strategie nicht grundlegend neu denken, sondern sie höchstens konsequenter und forcierter umsetzen, um die gesteckten Ziele vielleicht noch früher als geplant zu erreichen. Zum Beispiel beim flächendeckenden Ausbau der Fernwärmeversorgung im städtischen Talboden.
Deutschland verbrennt jetzt aber wieder mehr Kohle, damit das Gas anderweitig genutzt werden kann. Und der Bundesrat überlegt sich, die CO2-Zielvereinbarungen mit den grossen Unternehmen vorübergehend auszusetzen. Das ist keine klimafreundliche Politik.
Allererste Priorität hat jetzt die Versorgungssicherheit. Wir können die klimapolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte jetzt nicht einfach in drei Monaten wegzaubern, nur weil eine Mangellage droht. Die Krise kann allerdings helfen, nochmals das allgemeine Bewusstsein für die Notwendigkeit der Energiewende zu schärfen.
Die Stadtwerke Winterthur preschten kürzlich medienwirksam vor und verzichten künftig auf russisches Gas. Man kauft jetzt offiziell nur noch in der Nordsee ein – in Holland, Norwegen und Grossbritannien. Kritiker:innen werfen den Winterthurern allerdings Augenwischerei vor. Wie beurteilen Sie das?
Das sehe ich ähnlich. In der Regel wird über die europäischen Handelsplätze Gas eingekauft. Dort ist aber für den Käufer nicht bekannt, woher das Gas stammt. Es handelt sich deshalb um sogenannt «graues Gas». Mit den Zertifikaten wird die Erdgasherkunft dann neu definiert. Solange russisches Gas nach Europa fliesst, ist da zwangsläufig auch russisches Gas vorhanden. Über den Handelsplatz fliesst also weiterhin Geld nach Russland.
St.Gallen hat kürzlich einen Deal mit einem norwegischen Lieferanten abgeschlossen. Was ist hier anders?
Beim Norwegen-Deal, den zum Beispiel auch die Stadt Zürich gemacht hat, haben wir direkt eine Tranche norwegisches Gas gekauft, also nicht über die Handelsplätze, bei denen die Herkunft des Gases unbekannt ist. Für dieses Gas fliessen also im Hintergrund keine Zahlungen an Russland. Und das ist unser Ziel: Den Geldfluss nach Russland so stark wie möglich zu reduzieren.
Man könnte auch hier Scheinheiligkeit vorwerfen: Schliesslich verändert sich am Gasbedarf insgesamt nichts, es bleibt einfach ein bisschen weniger nicht-russisches Gas für die anderen Marktteilnehmer übrig.
Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, auch wenn die Norweger sich bemühen, ihre Kapazitäten auszubauen. Aber wie gesagt: Auf lokaler Ebene haben wir im globalisierten Energiemarkt keinen allzu grossen Hebel.
Hand aufs Herz: Wie ernst ist die Situation tatsächlich?
Dass es zu Engpässen in der Gas- und Stromversorgung kommt, ist realistisch. Ich bin aber sehr zuversichtlich, wenn ich sehe, was die internationale Politik derzeit unternimmt, um die Knappheit aufzufangen. Die drohende Mangellage hat das Thema derart weit nach vorne ins kollektive Bewusstsein getragen, dass hier sicher nichts unversucht bleibt.
Was können wir Mieterinnen und Mieter tun, die wenig Einfluss auf die Energieversorgung in ihrer Wohnung haben? Müssen wir jetzt Taschenlampen und Gaskocher kaufen?
Das wird kaum nötig sein. Individuell sollten wir tun, was generell gilt: Energie sparen, wo es geht, weniger Wäsche tumblern, den Kühlschrank ein, zwei Grad wärmer stellen. Wenn wir im Winter die Raumtemperatur in unseren Wohnungen nur schon ein Grad kühler stellen, können wir bis zu 6 Prozent Heizenergie sparen. Hier ist Solidarität gefragt.
Das gilt aber nicht nur für Einzelpersonen.
Selbstverständlich. Der Bundesrat will in den kommenden Wochen eine Informationskampagne starten, bei der es genau um diese kollektive Solidarität von Bevölkerung und Wirtschaft geht. Alle müssen mithelfen. Das ist einerseits eine Kampagne gegen innen, andererseits aber vermutlich auch ein wichtiges Signal nach Brüssel und Berlin. Denn wir haben kein Energieabkommen mit der EU. Sollte es tatsächlich zu einer Gasknappheit kommen und die Schweiz nicht genügend signalisieren, dass sie auch bereit ist, den Gürtel ein bisschen enger zu schnallen, dann könnte das Interesse Deutschlands bald einmal gegen null tendieren, die Pipelines in die Schweiz weiter zu bedienen.