, 2. Mai 2022
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Es raschelt in den Unterröcken

Schänis feiert seine 1050 Jahre Ersterwähnung mit einem Freilichttheater. In «D’Schtund vo de Zuekunft» dreht sich alles um den gestohlenen Wahlsieg der Liberalen im schicksalhaften Jahr 1847. Das Stück geht aber weit übers historische Nacherzählen hinaus.

Ein Fest feministischer Selbsterkenntnis: Die «Jahrhundertfrauen» im Freilichttheater D'Schtund vo de Zuekunft in Schänis. (Bilder: pd)

Eine einzige purpurne Pracht, wie die Rosskastanie im Innenhof des Kreuzstifts Schänis derzeit blüht und die Scheinwerfer ihre Schatten umspielen. Es ist eine nordamerikanische Züchtung. Das passt: Auch die erste schweizerische Bundesverfassung ist stark vom amerikanischen Liberalismus geprägt. Doch wie jeder verklärte und romantisierte Entstehungsmythos wirft auch die historisch umstrittene Posse um die St.Galler «Schicksalsgemeinde» Schänis ihre Schatten.

Commedia Adebar: D’Schtund vo de Zuekunft

Freilichttheater im Kreuzstift Schänis. Weitere Aufführungen am 4., 6., 7., 10., 11., 13., 14., 17., 18., 20., 21. und 22. Mai.

Wettermeldung auf der Website beachten: commediaadebar.ch

Das hübsche Bild des Siegs über die Konservativen an der Kantonsratswahl vom 2. Mai 1847, bei der Schänis mit einem pfiffigen Streich zuerst dem Kanton und folglich der ganzen Eidgenossenschaft eine winzige, aber für den heutigen Bundesstaat entscheidende liberale Mehrheit verschaffte, bekommt aus heutiger Sicht mehr als nur ein paar kleine Risse.

Fortschritt und Einigkeit durch radikalen Liberalismus oder transmontane Rückbesinnung auf eine heile, gottgegebene Weltordnung, die es so gar nie gegeben hat? So stellte sich die plakative Frage damals, so stellt sie sich auch heute im Freilichtstück des Uzner Theatervereins Commedia Adebar D’Schtund vo de Zuekunft.

Aber das Stück stellt natürlich weitere entscheidende Fragen: Wessen Zukunft, wessen Fortschritt, wessen Einigkeit, wessen Freiheit wurde 1847 eigentlich verhandelt? Und wer hatte in der Gretchenfrage des Kulturkampfs überhaupt mitzureden? Gretchen, so die Antwort des Stücks, sicherlich nicht.

Dominik Gmür (o. rechts, Christoph Zürrer) bringt seine liberalen Mitstreiter, den Hirschen-Wirt (Daniel Emmenegger) und einen Philosophen (Bruno Pfyl), auf Linie.

Die von historischen Quellen inspirierte Rahmenhandlung ist rasch erzählt, ohne damit zu viel über das unterhaltsame Stück zu verraten: In Schänis tobt der Kulturkampf. Im «Hirschen» agitieren die Liberalen mit verleumderischen Plakaten. Und im «Rössli» intrigieren die Konservativen, wo sie versuchen, für ihre Sache den verzweifelten Wirt zu gewinnen, der sich im Namen der Wirtschaft – seiner Wirtschaft – nicht für eine Seite entscheiden mag. Lügen, Schmierenkampagnen, Drohungen, Erpressungsversuche – so funktioniert Politik auch in Schänis.

Einzig die Liebe vermag die tiefen Gräben, die Spaltungen der Gesellschaft, die bis weit ins Private reichen, zu überwinden. Jemand dreht heimlich die Uhr am Schänner Kirchturm eine Stunde zurück. Die Bezirksgemeinde auf dem Rathausplatz beginnt für jene mit Blick auf die Turmuhr eine Stunde früher. Die konservativen Mehrheitsbeschaffer aus Amden kommen eine Stunde zu spät. Die Stimmen sind bereits ausgezählt, das Wahlergebnis ist besiegelt.

Das Publikum mitten im Ring

Die Legende mit der verstellten Kirchturmuhr wird seit 175 Jahren erzählt, historisch verbürgt ist sie nicht. Überliefert hingegen sind die schmutzigen Kampagnen, die damals beide Seiten gefahren haben. Die Legitimation der Wahlen in Schänis wurde von konservativer Seite noch Jahre danach angezweifelt.

Uhrenvergleich bei den Konservativen: Leonhard Gmür (Walter Huber), sein Sohn Konrad (Geri Rüegg), Bauer Peter (Andi Widmer) und Dorfbewohner Karl (Roli Widmer) wundern sich über die fortgeschrittene Zeit.

Und im Theater wird es zum Schluss sogar dem einen oder anderen Liberalen unwohl ob der gestohlenen Wahl. Das ist aber nur eines von vielen kleinen Einzeldramen, die sich vor diesem Hintergrund abspielen: eine Geburt zu einer Stunde, die es eigentlich gar nicht gibt; die Auswanderungspläne des Sohns eines Konservativen, für den wahre Freiheit die Absenz von Parteimeinungen ist; Dorf-, Familien- und Liebesgeschichten, wie sie das ideologisch zweigeteilte 19. Jahrhundert schrieb.

Und mitten drin das Publikum. Es betritt den Innenhof des Stifts über die kreisrunde Bühne und befindet sich quasi direkt im Ring, dem Ort des politischen Geschehens. Die Stühle lassen sich frei drehen. Wenn der Schauplatz einer Szene wieder auf eine andere Seite des Kreises wechselt, rascheln rundehrum die Pellerinen, die bei der zweiten Aufführung nötig waren, weil kurz vor der Vorstellung noch ein heftiger Frühlingsschauer über der Linthebene niederging.

Und auf der Bühne rascheln die Unterröcke. Sie gehören den Marktfrauen, den «Jahrhundertfrauen» von heute, die tanzen, plaudern, die historische Szenerie kommentieren und sich ärgern darüber, dass den Männern egal ist, wie ihre Frauen über den ganzen Politzirkus denken. Zumindest das hatten die Liberalen und die Konservativen damals gemein: Die patriarchale Vorstellung, dass die Frau nur der schöpferisch verlängerte Arm des Mannes darstellt. Und so wird die liberale Frage im Stück korrekterweise auch zu einer Frage weiblicher Selbstermächtigung.

Feministische Selbsterkenntnis

Aus Protest gegen die schmutzigen Politgeschäfte der Männer schälen sich die Marktfrauen aus ihren Röcken, Schicht um Schicht, entledigen sich den patriarchalen Fesseln und erkennen darunter: «Das bin ja ich!» Das Stück lebt von starken Frauenfiguren, von Johanna Gmür (Claudia Rickenmann), der Frau von Liberalenanführer Oberst Gmür, zum Beispiel. Oder Elise Gmür (Maria Rüegg), Tochter des Konservativen Leonhard Gmür, die beim Wäscheaufhängen den Anfang von Beethovens Für Elise immer trotziger hinträllert, bis sie sie schliesslich wutentbrannt hinter der blühenden Kastanie verschwindet.

Elise Gmür (Maria Rüegg), Tochter des Konservativen-Chefs, mit ihrer Freundin Johanna Gmür (Claudia Rickenmann), die Gattin des Liberalen-Chefs.

Dass die Frauen 1847 noch nicht viel zu melden hatten, ist an sich noch keine grosse Erkenntnis. Doch ist es Autorin Rebecca C. Schnyder und Regisseurin Barbara Schlumpf gelungen, die historisch angelegte Dorfpolitkomödie mit Schwung und Raffinesse ins Hier und Jetzt zu holen. Die schauspielerischen Leistungen des Ensembles, das 2008 mit dem nationalen Theaterpreis für das «innovativste Landschafts-Theater der Schweiz» ausgezeichnet wurde, haben ihrerseits grossen Anteil an der gelungenen Inszenierung.

Eine besonders tragende Rolle kommt der fünfköpfigen Blaskapelle zu, die mal schwungvollen Dorfplatz-Marsch, mal Mani Matter schmettert und dann wieder düstere Klänge anstimmt, wenn im «Hirschen» oder auf dem Weg zum «Rössli» wiedermal die Stimmung kippt.

Die Requisiten sind beschriftete Kartonschachteln, was dem Stück zusätzliche komische Noten verleiht. Sie sind so allerdings auch wetteranfälliger. Aber das macht schliesslich den besonderen Reiz eines Freilichttheaters aus. Und dabei wäre schon allein die schöne Purpurkastanie im Innenhof des Stifts eine Reise nach Schänis wert.

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