Es rappelt in der Klassiker-Kiste
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Vom ersten Stromkontakt bis zum bitteren Dolchstoss wird aus dem Vollen geschöpft. In Co-Produktion mit der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (Berlin) enthüllt Sebastian Ryser auf der Bühne des Figurentheaters St. Gallen zum ersten Mal den gesamten Memorabilien-Fundus des «Instituts für anrührende Liebesgeschichten». Auch die Live-Musik muss erst noch unter dem weissen Tuch aufgedeckt werden. Der Kurzschluss: zum Glück repariert.
Regal für Regal öffnet sich das Archiv rund um die Shakespeare-Tragödie. Die ersten Fächer sind mit den besten Romeo- oder Julia-Besetzungen aller Zeiten gefüllt. Die Mittelmässigen sind etwas weiter hinten. Kiste für Kiste gibt ihren Inhalt preis: flüchtige Dinge, gutaussehende Statisten oder ein muffiger Regie-Despot. Die manipulierten Dinge rühren mit einer Fülle an Kreativität Szene um Szene neu an.
Die von Johannes Eisele modellierten Figuren verwickeln das Publikum gekonnt in heimliche Schwärmereien. Eine vergessliche Seniorin, ein unglücklich verliebter Teenager, eine coole Provinzschauspielerin und eine Diva: Sie alle sind in Gestalt und Bewegung bewunderungswürdig. Und die Wimpern sind echt!
Ein Klassiker einmal nicht klassisch – nice
Regisseur Ryser lässt die Luft im Stück knistern. So wird das Universelle der Shakespeare-Geschichte herausgefiltert und mit viel Witz und Humor kommentiert. Der Einblick in die Seelentiefen der Tischfiguren bietet einen Neuzugang zum Stoff und staubt sowohl den Liebesmythos, als auch den Ruf des Figurentheaters etwas ab.
Am liebsten möchte man selbst gerade in das smaragdgrüne Kleid hineinschlüpfen, das aus der Kiste einer vergangenen Shakespeare-Aufführung herausgeholt wird. Doch dann klingelt mal wieder das Telefon: Illusionsbruch. Eine neue Lieferung für’s Archiv. Aber gerade rechtzeitig für die Balkon-Szene!
Gespiegelt wird die Tragödie zudem im virtuellen Raum. Romeo oder Super Mario? Man muss sich für keinen der beiden Helden entscheiden. Mittels der Greenscreen-Technik lassen Lars Wolfer und Regisseur Ryser die Figuren in Videoprojektionen schweben oder im Video-Game über Stock und Stein rennen. Im schlichten Bühnenraum von Maurus Leuthold entsteht ein Game im Spiel, welches mit dem tödlichen Gifttrank endet. Zwei mediale Ebenen, die sich gegenseitig bereichern. Next Level!
Kein Kitsch-Quatsch
Nächsten Samstag hat «Julia und Romeo» auch im Umbau des Theaters St. Gallen Premiere. Bern spielt das Stück ebenso – die berühmteste Liebesgeschichte scheint der Knüller der Theatersaison zu sein. In der Reihe der unzähligen Shakespeare-Inszenierungen ist die Produktion des Figurentheaters jedoch etwas ganz Besonderes: eine Wunderkiste an Überraschungen, verpackt und ausgepackt mit einer Leichtigkeit, so dass sich die originalen Zitate Shakespeares inmitten eines feurigen Badenudel-Kampfs einmal ganz nah anfühlen.
Vorerst letzte Vorstellung am 24. September (19 Uhr). Im März 2022 kommt das Stück wieder auf den Spielplan. Empfohlen ab 12 Jahren.
Von Kitsch ist dabei keine Rede. Und obwohl einige Figuren manchmal gerade keinen Bock haben, die Rolle zu spielen oder am Ende für den anderen zu sterben – sie reisen durch Raum und Zeit. Nicht jeder, der geht, lebt. Und nicht jeder, der bleibt, muss sterben. Warum hat Shakespeare dieses Stück nochmals geschrieben? Die Antwort wird irgendwo in einem der Regale aufbewahrt…
Sie wäre im Regal ganz zuvorderst
Die Co-Leiterin des Figurentheaters, Frauke Jacobi animiert als Archivarin die Spielfiguren in sichtbarer Kopräsenz auf der Bühne und verschmilzt beinahe mit den kichernden, aufbrausenden oder schluchzenden Figuren. Von ihr werden sie gleichzeitig sowohl zu Subjekten als auch zu identifizierenden Projektionsflächen verlebendigt. Mit grossem Einfühlungsvermögen für die Sehnsüchte, Sorgen und Träume der einzelnen Romeos und Julias verleiht Frauke Jacobi jeder einzelnen Figur eine differenzierte und charakteristische Stimme, die sich direkt in die Publikumsherzen schleicht.
So entsteht ein selbstreflexives Spiel, ein sprudelndes Wechselspiel von Tragödie und Liebe. Verstärkt durch expressive, ätherische oder warme Celloklänge von Lorena Dorizzi und die idyllisch-bunten Lichtstimmungen von Stephan Zbinden und Lukas Bollhalder, öffnen sich faszinierende neue Blicke auf die über 400 Jahre alte Liebesgeschichte. Der «super herzliche Applaus» und das Bravo-Gejubel am Ende sind verdient. Ein Hoch auf die Liebe! Ein Hoch auf diese Inszenierung und ihren Regisseur Sebastian Ryser.