, 9. April 2017
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Es ist, wie wir es wollen

Das Theater St.Gallen spielt «Einige Nachrichten an das All» von Wolfram Lotz. Auf der grossen Bühne geht es um die letzten Fragen und darum, was Theater kann. Fast alles, wie die Inszenierung von Hausregisseurin Barbara-David Brüesch zeigt.

Auf Sinnsuche: Bruno Riedl, Tobias Graupner, Birgit Bücker.

Was macht einer, den es nur als Theaterfigur gibt? Er sucht sich einen Sinn, am besten zusammen mit einem andern, der auch nicht weiss, warum er da ist. «Irgendeinen Sinn muss es doch machen», sagt Bruno Riedl, der den einfach so hierhergeratenen Purl Schweitzke spielt mit wunderlich sprechenden Händen. Und Tobias Graupner, der als Lum seine Glieder auf eine unwahrscheinliche Krüppelart verrenken kann, antwortet: «Ja. » Also wünschen sie sich ein Kind.

Mit Purl und Lum hat Wolfram Lotz zwei Nachfahren von Wladimir und Estragon geschaffen. Sie reden, als warteten sie auf Godot, sie kommen aus dem Schachtdeckel hoch, der entfernt an die Mülltonnen aus Becketts Endspiel erinnert. Aber ihre Dialoge haben mehr noch von Karl Valentin. «Wir kehren nach nirgendwo zurück, woher wir noch nicht mal kommen», weiss Lum. Autor Wolfram Lotz hat Beckett etwas voraus: Er mag seine Figuren.

Purl (Bruno Riedl) und Lum (Tobias Graupner).

Zwischen Schöpfungsmythos und Weltuntergang

Das absurde Theater ist in diesem wunderlich schwebenden und trotzdem geerdeten Stück von 2011 nur eines von vielen schwarzen Löchern. Andere sind: Fernsehsamstagabendrevue («Unterhaltung», schreit Showmaster Oliver Losehand ins Publikum, und dieses echot zurück: «Haltung»), Krippenspiel, Schöpfungsmythos, Sprachzerfallkritik, Apokalypse.

Auf der Bühne, vorn Variété, hinten Mondlandschaft, findet eine Sinnsuche im Möglichkeitsraum statt, fallen Säcke und Weltraumschrott und ein Wasserfall vom Himmel, reden Fussnoten (Birgit Bücker), liegt plötzlich ein Zettel, auf dem steht, wie das Stück weitergeht, wird auch mal eine Szene zurückgespult im Schnelldurchlauf, umarmen sich Sterbensangst und Lebenstrost, kurzum: Hier geht es um alles, und dies in einer Leichtigkeit, die einen mit den Nöten der Existenz im wirklichen Leben für zwei Theaterstunden beinah versöhnen kann. Zwei pausenlose Stunden, die die Behauptung einlösen, die Lotz in seiner «Rede zum unmöglichen Theater» (nachgedruckt im Aprilheft von Saiten, nachzulesen auch hier) aufstellt: «Es ist nicht, wie es ist! Es ist, wie wir wollen, dass es wird!»

Doris Leuthards Explosion

Was der Showmaster, Leiter des Fortgangs genannt, will, ist rasch klar: alles, nur ja keine Leere aufkommen lassen! Unfasslich, was der wirblige Oliver Losehand aufzählt, was er alles studiert, probiert, perfektioniert und propagiert hat – es würde für zehn Leben reichen und hilft doch nicht ganz gegen die Leere, die nachts im Bett anklopft.

Der Leiter des Fortgangs (Oliver Losehand) im Element.

Monologe dieser umwerfenden Art sind ein Kern des Stücks. Christian Hettkamp träumt als «dicke Frau» von Buschwindröschen und berichtet als «der alleinerziehende Klaus Alberts» vom Unfalltod seiner Tochter, weil er zu einem «Roboter des Schmerzes» würde, wenn er nicht erzählte, und weil  ein bisschen Trost darin stecken könnte, dass es in dieser misslungenen Welt Zusammenhänge gibt, auch wenn wir sie nicht verstehen.

Anja Tobler erklärt als Wissenschaftler Rafinesque aus dem 18. Jahrhundert ihre bahnbrechende Entdeckung der Ursprache Walam Olum, breitet als Heinrich von Kleist dessen ganzen Weltekel aus und verstrickt sich dabei heillos in einen Plastikstuhl.

Kleist (Anja Tobler).

Und, kleine Theatersensation: Doris Leuthard  kommt leibhaftig als Stargast in die Show und beschwört (von Anja Tobler typähnlich parodiert) in einer fulminanten Rede den Untergang des Sozialstaats und die bevorstehende Implosion der Nation auf einen Punkt im explodierenden Universum oder so ungefähr. «Die Frau hat einen recht traurigen Eindruck gemacht», kommentiert Purl.

Kein kleines goldenes Zelt

Regisseurin Barbara-David Brüesch, Damian Hitz (Bühne), Heidi Walter (Kostüme), Martin Hofstetter und Stefan Pinkernell (Musik), Heta Multanen (Video) und das ganze, beim Schlussapplaus auf der Bühne versammelte Team im Hintergrund sprudeln vor Einfällen, dem Theater zu geben, was die Wirklichkeit uns vorenthält. Das ist alles sehr lustig und traurig und so menschlich in seiner ernsthaften Nutzlosigkeit wie die Nachrichten an das All, die dem Stück seinen Titel geben: Mit einem bizarren Gerät, das Jules Verne hätte erfinden können, lässt der Leiter des Fortgangs die seinen prominenten Gästen abgerungenen Wörter ins Universum trompeten. Drei sind es nur, aber sie werden dort ankommen, schliesslich sind wir im unmöglichen Theater.

Auf Sendung: Oliver Losehand, Anja Tobler als Samuel Constantine Rafinesque.

Nur eins geht nicht. Ein Kind. Das kann der Leiter des Fortgangs nicht herbeizaubern, das kann auch das Theater nicht machen, Purl und Lum müssen es am Ende schmerzhaft einsehen: Ihr Kinderwunsch geht nicht in Erfüllung. Purl bringt sich deswegen um, und Lum geht halb ins Wasser, mit dem sich inzwischen der Teich in der Bühnenmitte gefüllt hat. Das hilft aber auch nichts. Das Kind, das «kleine goldene Zelt, das uns geschützt hätte vor dem Unsinn der Welt», kommt nicht.

Im Hier und Heute des Theaters

Zwar ist heute (und im Lotz’schen Theater ist immer Hier und Heute) ein Kindlein geboren, das der Retter sein soll. So sagen es die Kinder im Krippenspiel vor Stückbeginn im Foyer. Die sympathische Kinderstatisten-Truppe (Jeannine Fürer, Leonie Martel, Ella Müller, Nando Kuhn, Dominik Fürer, Elhad Hoti) samt Engel Diana Dengler spielt munter, aber etwas allzu absichtsvoll handglismet – die Regie missachtet damit den Ernst, den Kindertheater hat. Dazu passt, und es ist das einzige, was man dem Stück vorwerfen kann: Autor Lotz will, dass die Kinder aus der örtlichen Kinderonkologie  kommen und dass der Darsteller des Lum ein wirklicher Spastiker sein soll. Zusammen mit dem Altärlein samt Schlagerkitsch, das am Ende für die Kinderkrüppelchen in der Bühnenmitte errichtet wird, schmeckt das nach billiger Provokation, die im Stückganzen leer läuft.

Kein Kind also. Auch kein Retter – im Stroh in der Krippe zu Bethlehem liegt bloss ein Luftballon, der in den Himmel aufsteigt. Metaphysischen Trost versagt uns der Autor. Die einzige Hoffnung in diesem Stück heisst: Theater. Das ist auch nicht wenig. Sondern eine ganze Menge Zuversicht «in eine bessere Zukunft hinein», wie es in Lotz‘ Rede heisst.

Und es ist nebenbei ein gutes Argument für den 46-Millionen-Kredit zur Renovation des Theaters, über den gerade debattiert wird. Theater, das mit einem so phänomenalen Schauspielensemble Möglichkeitsräume auftut, die die «Würstchenpeter des Bestehenden» sich nicht träumen liessen – ein solches Theater ist sein Geld allemal wert.

 

 

 

 

 

 

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