«Es ist wichtig, dass die Partei auch Kritik an meiner Arbeit äussert»

Die Partei von Stadtpräsidentin Maria Pappa kritisiert das harsche Vorgehen der Polizei am Ostersonntag gegen die Jugendlichen. Puff in der SP St.Gallen? «Nein», sagen die Stadtpräsidentin und Parteipräsident Peter Olibet, «alles eine Frage der Rollen.» von Roman Hertler und Corinne Riedener
Von  Roman Hertler Corinne Riedener
Am Karfreitag eskalierte die Situation in der Stadt St.Gallen. (Bild: gk)

Saiten: Eine dritte Krawallnacht wurde verhindert. Peter Olibet, sind Sie zufrieden mit «Ihrer» Stadtpräsidentin?

Peter Olibet: Ich bin glücklich, dass wir eine Stadtpräsidentin haben, die auf die Strasse geht und den Kontakt zu den Jugendlichen sucht. Und auch, dass es keine erneuten Krawalle gegeben hat. Die Stadtpolizei hat vieles richtig gemacht, aber unter dem Strich hat sie mit diesen 650 Wegweisungen das falsche Mittel gewählt. Aus meiner Sicht hätte es gereicht, rigorose Kontrollen durchzuführen, die Gewaltbereiten aus dem Verkehr zu ziehen und allen anderen zu sagen: Geht wieder nach Hause.

Entsprechend deutlich ist die Kritik der städtischen SP am Vorgehen der Polizei: Sie sei unverhältnismässig, man stelle die Jugendlichen unter Generalverdacht, heisst es in mehreren Medienmitteilungen. Hat sich die Partei verkracht mit Maria Pappa?

PO: Überhaupt nicht, wir haben verschiedene Rollen. Maria Pappa ist Stadtpräsidentin und Vorsteherin der Exekutive. Diese entscheidet als Gremium und wird von der Verwaltung unterstützt, die sich an den Entschlüssen des Parlaments orientiert. Die Lagebeurteilung aus Sicht des Stadtrats und der Verwaltung hat das Vorgehen der Stapo ergeben. Damit sind wir nicht einverstanden – wie wir mit vielen Dingen nicht einverstanden sind, die der Stadtrat und die Verwaltung machen. Das war schon vorher so und wird auch in Zukunft so sein. Das ist ein normaler Vorgang und kein Misstrauensvotum gegenüber der Arbeit von Maria Pappa.

Stadtpräsidentin Maria Pappa.

Maria Pappa, wie argumentieren Sie der Partei und ihren Wähler:innen gegenüber?

Maria Pappa: Es ist wichtig, dass die Partei unabhängig bleibt und auch Kritik an mir und meiner Arbeit äussert. Ich kann verstehen, dass es grosse Bedenken gibt bezüglich der vielen Wegweisungen, bin aber der Meinung, dass es keine mildere Variante gegeben hat, um weitere Krawalle zu verhindern. Ich stehe hinter der Entscheidung des Stadtrats. Natürlich ist man nicht immer gleicher Meinung. Darum braucht es den parteiinternen Austausch, denn es kann immer sein, dass man sich versteigt, Aspekte vergisst oder wichtige Werte vernachlässigt – gerade in Krisensituationen. Wenn man diesen Austausch nicht hat, läuft man Gefahr, zu wenig zu reflektieren und seine Position zu verwässern.

Spricht man sich denn in einer solchen Situation überhaupt noch ab mit der Partei oder ist man da völlig im «Krisenmodus» und vertagt die Diskussionen auf später?

MP: Beides. Es gibt viele Situationen oder Geschäfte im Parlament, bei denen ich gerne die Meinung nicht nur der eigenen Partei, sondern auch von den anderen einhole, um eine politische Einschätzung zu haben. Aber in Krisensituationen fehlt natürlich die Zeit für so einen Austausch. Es brauchte einen schnellen Entscheid des Stadtrats, und da ich am Karfreitag selber vor Ort war und mir ein eigenes Bild machen konnte, war ich mit diesem Entscheid einverstanden.

PO: Das wäre auch nicht richtig, wenn die Stadtpräsidentin alles mit der Partei absprechen würde. Es ist ja nicht so, dass ich in Maria Pappas Vorzimmer sitze und alle ihre Entscheide über meinen Tisch gehen. Richtig hingegen ist, dass eine Stadträtin wichtige Themen und Geschäfte immer auch innerhalb und ausserhalb der Verwaltung spiegelt aus Sicht von möglichst vielen Anspruchsgruppen – nicht ausschliesslich aus Sicht der eigenen Partei.

Hätten Sie, Maria Pappa, diesen Einsatz auch befürwortet, wenn Sie nicht Mitglied der Exekutive wären?

MP: Wenn ich nicht in der Exekutive wäre und die Details nicht gekannt hätte, hätte ich den Einsatz selbstverständlich hinterfragt. Wie ich im Übrigen auch jetzt das Handeln reflektiere. Aber: Es war eine totale Ausnahmesituation, eine völlige heterogene Masse, in der die Leute untergetaucht sind. Wir konnten einfach nicht nochmals eine solche Nacht wie am Freitag verantworten. Dazu gehörten auch die vielen Schaulustigen. Selbst die Polizei war überrascht von der Anzahl. Wir haben unterschiedliche Varianten abgewogen und über die jeweilige Verhältnismässigkeit diskutiert. Und uns schlussendlich für die Wegweisung entschieden.

Peter Olibet, Präsident der SP Stadt St.Gallen.

PO: Das Problem ist grundsätzlicher Natur: Wegweisungen haben eine lange unrühmliche Geschichte in St.Gallen, darum haben wir sie jahrelang bekämpft. Weil so auch Unschuldige weggewiesen werden können, weil man sie nicht im öffentlichen Raum haben will – und nicht Leute, die wirklich «die Sicherheit stören», auch wenn das schon eine problematische Formulierung ist. Doch genau das ist am Sonntag passiert. Die Polizei hat insofern alles richtig gemacht, da es keine weiteren Krawalle und Sachbeschädigungen gegeben hat. Aber sie hat hunderte Jugendliche präventiv und pauschal weggewiesen – dafür wurde der Wegweisungsartikel definitiv nicht geschaffen.

MP: Man hätte auch eine 24-stündige Wegweisung in Betracht ziehen können, aber es gab weitere Gewaltaufrufe. Es gibt im Moment schlicht kein anderes Mittel, um eine längerfristige Beruhigung zu schaffen.

Man darf auch nicht vergessen, dass diese 650 Leute alle fotografiert und fichiert wurden.

PO: Ich bin froh, dass Stadt und Polizei jetzt zurückgerudert und bereit sind, unberechtigte Wegweisungen zurückzuziehen. Auch auf Druck der SP. Darum ist es wichtig, dass wir auch skeptisch sind, wenn es um diese Fichierungen geht. Wir werden zu gegebener Zeit wieder nachfragen, was mit diesen Daten passiert ist. Das ist unsere Rolle als linke Partei. Wir vertrauen dem Staat nicht bedingungslos.

MP: Das ist auch richtig so.

Frau Pappa, was unterscheidet Ihre Rolle in der Exekutive von jener der Legislative?

MP: Ich ändere meine Grundhaltung als Mensch nicht, nur weil ich jetzt in der Exekutive bin. Aber ich habe heute die Verantwortung für alles. Früher als Parlamentarierin konnte ich scharf und radikal für gewisse Anliegen einstehen. Heute muss ich abwägen, wie ich möglichst allen gerecht werde, ohne mich zu verbiegen. Zudem bin ich in einem Team von fünf Personen, das nach dem Kollegialitätsprinzip funktioniert. Es ist nicht immer einfach, eine Stadtratsentscheidung zu vertreten, gerade wenn man persönlich anderer Meinung ist. Trotzdem ist es als Stadtratsgremium sehr wichtig, geeint und als starkes «Paket» aufzutreten.

Die SP ist in der Stadt die grösste Minderheit in der Stadt. Was ist Eure Rolle? Opposition?

PO: Das Wort Opposition passt mir nicht, weil es immer gegen etwas geht. Wir haben zwar nicht die Mehrheit beim Wähler:innenanteil, aber wir machen Politik für die Mehrheit dieser Stadt, ohne die Minderheiten zu vergessen. Jene, die auf eine starke Sozialpolitik angewiesen sind, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen oder ohne Stimmrecht. Das heisst auch, der Exekutive auf die Finger zu schauen und sie an die Rahmenbedingungen, die wir ihr als Bevölkerung und Parlament gesetzt haben, zu erinnern. Und das haben wir unter anderem gemacht, indem wir den Stadtrat für die 650 Wegweisungen kritisiert haben.

Viele Jugendliche, die im Moment Stunk machen, haben auch ein geringes Einkommen und noch kein Stimmrecht. Was müsste sich kurz- und mittelfristig verändern, um diese erhitzten Gemüter zu beruhigen?

PO: Viele Gemüter sind auch erhitzt durch die Wegweisungen. Das hat sie in ihrem Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Man hat ihnen im Vorfeld gesagt, dass sie am Ostersonntag heimgeschickt werden und nicht, dass sie 30 Tage lang nicht mehr in die Stadt kommen dürfen. Es geht jetzt darum, die Anliegen der Jungen ernst zu nehmen und auf sie zuzugehen – und das hat Maria Pappa vorbildlich versucht. Es ist aber auch eine Aufgabe der Verwaltung. Die aufsuchende Jugendarbeit hat wenig Ressourcen und muss darum aufgestockt werden, gerade in dieser Zeit, wo die Jungen viel mehr im öffentlichen Raum unterwegs sind, weil alles andere nicht erlaubt ist. Das Signal muss sein: Ihr dürft eure Freiräume haben, ihr dürft nach St.Gallen kommen, wir sind da für eure Sorgen und Anliegen, redet mit uns.

MP: Ich verstehe, dass ein Teil der Jugendlichen verärgert sein könnte und habe auch darum den Austausch zur Jugendarbeit gesucht. Durch die Pandemie ist diese in einer sehr schwierigen Situation, da sie den Kontakt zu den Jugendlichen nur schwer aufrecht erhalten kann. Die Jugendtreffs sind zwar wieder offen, aber das Verhältnis ist oft sehr distanziert. Das Problem ist aber kein städtisches, sondern ein nationales. Der Unmut und die Unsicherheit über die Situation, in der wir stecken, ist sehr gross. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene können schlecht damit umgehen, sind frustriert, haben vielleicht psychische Probleme oder Schwierigkeiten in der Familie. Ich kann es verstehen, wenn einige ausrasten. Das Problem lösen wir nur, wenn es vielschichtig angegangen wird, das heisst nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern auch auf kantonaler und nationaler.