Es hat noch Platz in der Herberge

In der Jugendherberge im St.Galler Birnbäumenquartier betreibt der Kanton ab November eine Asylunterkunft «mit Integrationscharakter». Doch was bedeutet das? Und wie sprechen wir eigentlich über Migration? Der Bericht vom Informationsanlass für das Quartier.

Von  Matthias Fässler
Die Jugendherberge St.Gallen wird vorübergehend zur kantonalen Asylunterkunft. (Bilder: pd)

Ein bisschen versteckt ist sie. Man durchquert das Linsebühlquartier stadtauswärts, schlängelt sich vorbei an der alten Stadtsägerei und biegt dann rechts in ein steiles Strässchen ab, das den Hang Richtung Birnbäumen hinaufführt. Links reihen sich Mehrfamilienhäuser aneinander, ausgestattet mit grosszügigen Gärten und Platz für das Familienauto in der Tiefgarage. Auf der rechten Seite, hinter hohen Bäumen, wird gerade eine Überbauung für Studierende aus dem Boden gestampft, mit der, so schreibt das zuständige Architekturbüro, «eine Lücke im St.Galler Wohnungsmarkt geschlossen werden» soll.

Ein paar Meter weiter, noch bevor man hier am Stadtrand die Meienbergstrasse oder die Bähnlihaltestelle Birnbäumen erreicht, biegt man ab. Hier steht auf einem kleinen Plateau die einzige Jugendherberge der Stadt, mit wunderbarer Aussicht über das städtische Tal, das an diesem Montagabend in ein warmes Lichtermeer getaucht ist.

Vor dem Eingang stehen Tische und Sofas aus Europaletten, auf dem Vorplatz wartet verlassen ein Pingpongtisch. Hier werden schon bald die ersten Asylsuchenden einziehen, wie der Kanton St.Gallen Ende August angekündigt hat. Maximal 70 sollen es sein.

Die Herberge als Unterkunft für Zufluchtsuchende – fast will man hier am Hügel über der Stadt schon biblische Vergleiche bemühen, erst recht dann, als sich im Publikum der Informationsveranstaltung ein Vertreter der Kirchgemeinde Linsebühl («Wie können wir helfen?») und einer des Frauenklosters Notkersegg («Wir bräuchten dann noch Hilfe zum Obstbäumeschneiden.») zu Wort melden. Doch man landet ziemlich schnell wieder auf weltlichem Boden: Es ist die Rede von «Casemanagement», «Asylzentren mit Integrationscharakter», von «Zahlen, die wir verarbeiten müssen».

Menschen im «erweiterten Verfahren» – alles läuft gut

Eingeladen hat an diesem Montag die Stadt zusammen mit dem Kanton, um über den geplanten Betrieb zu informieren. Die Gästeliste ist lang und einigermassen illuster: Neben Jürg Eberle, dem Leiter des kantonalen Migrationsamtes, ist auch Tilla Jacomet anwesend, die lange die Beratungsstelle der HEKS leitete und jetzt die Asylabteilung des Kantons. Vor Ort sind auch Leitungspersonen des neuen Zentrums. Und schliesslich Ralph Hurni, höchster Stadtpolizist, der vor kurzem ankündigte, 2025 in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Ein grosses Aufgebot für ein beschauliches Asylzentrum.

 

Der Grund, wieso dieses in Betrieb genommen wird, ist die hohe Auslastung der kantonalen Asylzentren, die schon länger anhalte, wie Jürg Eberle vom Migrationsamt gleich zu Beginn erklärt. Auch im Wohnungsmarkt für Asylsuchende müssen also Lücken geschlossen werden.

Um zu verstehen, wer hier untergebracht wird, lohnt sich ein kurzer Rückblick ins Jahr 2019. Damals trat das neue Asylgesetz in Kraft, welches eine Aufsplittung des Asylverfahrens in ein beschleunigtes und ein erweitertes Verfahren vorsieht. Im erweiterten Verfahren landen nur jene Asylgesuche, wo noch zusätzliche Abklärungen vorgenommen werden müssen, also Geflüchtete, die gute Chancen auf ein Bleiberecht haben.

Die temporäre Unterkunft in der Jugendherberge betrifft diese Personen: Menschen im erweiterten Verfahren mit guter Bleiberechtsperspektive. Dies sei der Grund, betonten Eberle und Jacomet, warum man sie in Zentren «mit Integrationscharakter» unterbringe, wo sie durch eine klare Tagesstruktur und Unterstützungsangebote auf ein Leben in einer Gemeinde vorbereitet würden. Rund 500 Menschen seien im ganzen Kanton in solchen Zentren untergebracht, erklärt Jacomet. «Und wir können mit Stolz sagen, dass es gut läuft.»

Erinnerungen ans Riethüsli

Dass ein Asylzentrum mitten in der Stadt St.Gallen zu stehen kommt, ist aussergewöhnlich. Denn wer im Kanton St.Gallen das Asylverfahren durchläuft, sei es im erweiterten oder beschleunigten Verfahren, landet, mit Ausnahme von Wil, meist in der ländlichen Peripherie: in Amden, Oberbüren, Walzenhausen oder Uznach. Die Lage hier in St.Gallen, mitten in einer grösseren Stadt sei natürlich «die Krönung», wie Eberle im Gespräch sagt. Aber man wolle den Leuten keine Realität vorgaukeln, die sie nach dem Asylverfahren nicht mehr vorfinden würden. Schliesslich landeten dann viele wieder in eher ländlichen Gemeinden.

Ein Asylzentrum mitten in der Stadt: Das gab es letztmals 2015/2016, als der Kanton Geflüchtete im Zivilschutzbunker im Riethüsli unterirdisch unterbrachte und im Anschluss daran ebenfalls die Jugendherbe nutzte. Abgesehen von der mehr als zweifelhaften Unterbringung in einem Bunker waren die Erfahrungen damals sehr positiv. Im Quartier, aber auch darüber hinaus, entstanden innert kürzester Zeit verschiedene Initiativen zur Unterstützung der Menschen, es fanden Fussballturniere statt, es gab Sachspenden, es entstanden Freundschaften. Hier in der Stadt schien eine andere Art der Zugehörigkeit möglich als in ländlicher Abgeschiedenheit (wo natürlich auch soziale Beziehungen entstehen können).

Doch die Unterbringung, sowohl in der Zivilschutzanlage wie auch in der Jugendherberge, war schon damals nur provisorisch. Auch heute wird die Unterkunft nur bis März 2025 betrieben. Dies zu betonen, ist Eberle wichtig: Man müsse keine Angst haben, dass hier eine dauerhafte Unterkunft entstehe.

«En huere Lärm»

Es ist eine Besänftigungsgeste, die an diesem Abend grösstenteils ins Leere läuft. Denn gekommen sind, zumindest den Voten und einzelnen Gesprächen nach zu urteilen, fast ausschliesslich Menschen, die helfen möchten, die sich interessieren für die Menschen, die hier bald in ihrer Nachbarschaft leben werden. Etwa 70 Personen sind gekommen, die meisten aus dem Quartier.

Mehrere berichten, dass sie auch hier seien, weil sie befürchteten, dass sich viele kritische Stimmen zu Wort melden würden, es eine «aggressive Stimmung» oder sogar «Asylantenbashing» geben könne. Davon ist dann aber wenig zu spüren. In der Fragerunde geht es um praktische Hilfe, um die Herkunftsländer der Menschen, um Fragen nach dem Asylverfahren. Eine Anwohnerin hofft, dass auch schwangere Frauen kämen, denn es sei schön, mitzuerleben wie Kinder auf die Welt kämen.

Ab und an blitzen dann aber doch auch Befürchtungen auf: Eine direkte Anwohnerin meldet sich mit dem Anliegen, dass die Bewohnenden nicht die Abkürzung durch ihren Garten zum Zentrum nehmen sollen, was bereits jetzt immer wieder vorkomme. Eine andere wünscht sich, dass die Nachtruhe eingehalten werde. Bei der Jugendherberge sei manchmal «en huere lärm». Ein Nachbar sorgt sich um den Kinderspielplatz und fragt, ob es da Regeln gebe, wenn sich zu viele Leute dort aufhielten. Jemand fragt, was geschehe, wenn die Bewohner:innen in die Stadt gingen (Antwort Jacomet: «Es ist kein Gefängnis. Aber es gibt klare Regeln.»)

Man würde dann natürlich gerne nachfragen, was denn all diese Probleme spezifisch mit Asylsuchenden zu tun haben. Schliesslich scheint es sie ja bereits jetzt zu geben – mit Jugendlichen und Gästen der Unterkunft.

Migration als Sicherheitsproblem

Was sich hier im Kleinen Luft verschafft, wenn auch vergleichsweise harmlos, lässt sich durchaus als Ausdruck eines politischen Diskurses lesen, der sich in den letzten Jahrzehnten stets weiter nach rechts verschoben hat. Ein Klima, in dem Migration und damit auch Migrant:innen in erster Linie als Bedrohung «unserer» Sicherheit wahrgenommen werden.

Die Informationsveranstaltung und auch die Anwesenheit verschiedener Ansprechpersonen, von der zuständigen Zentrumsleitung und der Sozialarbeit bis hin zum höchsten Stadtpolizisten, ist auch als Reaktion auf dieses verschärfte Klima zu deuten. Sonja Lüthi, welche die Veranstaltung initiiert hat, erzählt im Gespräch, dass sie durchaus auch einzelne kritische Rückmeldungen erhalten habe und darum froh sei, dass die Stimmung dann doch so konstruktiv gewesen sei. Auch wenn die Integration und Aufnahme von vielen Menschen eine Herausforderung sei, für die Schweiz, wie auch die Stadt St.Gallen und auch finanziell: «Die Lösung kann nicht sein, dass wir sagen, sie dürfen nicht mehr kommen.»

Dass die Informationsveranstaltung gut ankommt, zeigen verschiedene Meldungen aus dem Publikum. Man höre immer wieder vom grossen Asylchaos, auch oder gerade in den Medien, bemerkt etwa der Gast aus dem Frauenkloster. Hier vor Ort zeige sich aber wie professionell und strukturiert ein Asylverfahren eigentlich ablaufe.

Markige Sprüche und offene Fragen

Nach rund eineinhalb Stunden ist die Veranstaltung zu Ende. Ein Anwohner freut sich darüber, wie «unaufgeregt solidarisch» sich die Nachbarschaft gezeigt habe. Doch es bleibe auch ein zwiespältiger Eindruck. Denn viel Raum hätten «markige Sprüche» um Regeln, Sanktionen und Schweizer Werte eingenommen. Nur am Rande sei es um die Menschen auf der Flucht gegangen.

Das zeigt sich etwa dort, wo Tilla Jacomet Olaf Scholz zitiert, der in Deutschland gerade den Asylhardliner gibt: «Ohne Sicherheit geht gar nichts» steht auf ihrer Powerpointfolie. Dass es dabei auch um die Sicherheit der Geflüchteten geht, wie Jacomet danach betont, geht in den weiteren Ausführungen zu harten Hausregeln und Sanktionsmöglichkeiten unter, wo Asylsuchende hauptsächlich als Probleme oder «Belastung» auftauchen. Allgemein hüpfen die Verantwortlichen während der Präsentation hin und her: zwischen fürsorgerischer Professionalität und der demonstrativen «harten Hand», die es bei Problemen brauche.

Zwei weitere «markige» Sprüche liefert dann Jürg Eberle. Er antwortet auf die Frage nach Sanktionen bei einem Regelverstoss: Am härtesten treffe man die Asylsuchenden, wenn man ihnen das ohnehin knappe Geld kürze. Und zur Frage der Integration sagt er: «Dass man etwas machen muss für das Geld, ist Teil unserer Kultur, die wir ihnen (den Asylsuchenden) beibringen müssen.» Als ob Menschen aus der Türkei oder Afghanistan nicht auch für ihr Geld arbeiten müssten.

Bei all den wortreichen Ausführungen kommt ein wenig zu kurz, was Integration und Unterstützung in einem solchen Zentrum «mit Integrationscharakter» auch bedeutet, im positiven Sinne: Die Bewohnenden haben klare Tagesstrukturen, erhalten medizinische und psychologische Hilfe, können Freizeitangebote wahrnehmen, kochen selber, werden durch Sozialarbeiter:innen betreut. Solche Angebote sollen in der Jugendherberge sichergestellt werden. Und sie werden, im Unterschied zu anderen kantonalen Zentren ausserhalb St.Gallens vom Kanton selber betrieben und nicht von privaten Organisationen. Diese könnten die kantonalen Konzepte für die Unterbringung und Betreuung nicht im gleichen Masse umsetzen, so Jacomet.

Eine dauerhafte Unterkunft in der Stadt?

Nicht viel ändern werden diese unterstützenden Strukturen jedoch an der Architektur der Jugendherberge. Gewohnt wird in 6er-, 4er- oder 2er-Zimmern auf relativ engem Raum. Privatsphäre gibt es kaum. 18 Personen teilen sich auf einer Etage vier Duschen und vier Toiletten. Eberle berichtet, dass im Normalfall, also etwa bei ehemaligen Hotels, die Kapazität jeweils verdoppelt werde, also in Einzelzimmern zwei Personen untergebracht würden. Darauf verzichte man hier. Wohl auch deshalb, weil gar kaum zusätzlicher Platz in den Zimmern für weitere Betten zur Verfügung steht.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe fordert schon seit Längerem, vermehrt auf private Unterbringung von Geflüchteten zu setzen – bei Gastfamilien oder Verwandten. Jürg Eberle sieht das kritisch: «Wenn Leute dezentral in verschiedenen Wohnungen sind, funktioniert die Integration und Vermittlung von kulturellen Werten und Strukturen nicht.» Da fragt man sich: Kann wirklich nur der Staat Werte vermitteln?

Dass der Kanton in angeblichen «Notsituationen» immer wieder auf provisorische Unterkünfte zurückgreifen muss, hat auch damit zu tun, dass es insgesamt zu wenige dauerhafte Unterkünfte gibt. «Dass permanent genügend dauerhafte Unterkünfte betrieben werden, lässt sich bei der Spannweite der Zuweisungen durch den Bund kaum finanzieren», sagt Sonja Lüthi. «Die Stadt ist grundsätzlich sehr gerne bereit, Hand zu bieten.» Der Kanton habe auch schon verschiedentlich Liegenschaften dafür gesucht. Nur leider bislang ohne Erfolg. «Gescheitert ist es unter anderem an Sicherheitsvorkehrungen wie Brandmeldeanlagen und so weiter, oder an zu geringen Kapazitäten.»

Auch Migrationschef Eberle zeigt sich grundsätzlich offen für eine dauerhafte Lösung. Wobei auch er betont: «Es braucht ein geeignetes Objekt.» Und gerade in städtischen Verhältnissen seien solche sehr selten. Der Vorteil an Mietverhältnissen sei, dass man immer die Möglichkeit habe, schnell zu reagieren. Und so habe niemand für ewig eine Belastung. «Wenn man denn von Belastung sprechen will.»

Langsam leert sich bei den letzten Fragen der Saal der Jugendherberge, die Nachbarschaft verteilt sich wieder auf die Häuser rundherum. Und man geht die steile Strasse hinunter und nimmt für sich zwei Gewissheiten mit: Im Winter wird das eine waghalsige Schlittelstrecke sein. Und es gibt Platz in der Herberge St.Gallen.