, 19. Juni 2024
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«Es ging mir extrem nahe»

Christof Huber, Chef des Openair St.Gallen und des Summerdays Festivals, war kürzlich in der Ukraine. Ziel der Reise war, eine Stiftung zu unterstützen, die humanitäre Hilfe leistet und den Wiederaufbau kultureller Einrichtungen vorantreibt.

Christof Huber besuchte Ende März verschiedene ukrainische Städte. (Bilder: Christof Huber)

Saiten: Christof, du hast Ende März auf den sozialen Medien ein Video aus der Ukraine gepostet von der «Music Ambassadors Tour», an der du teilgenommen hast. Was hat es damit auf sich?

Christof Huber: Ich muss da etwas ausholen. Yourope, der europäische Festivalverband, hat etwa 120 Mitglieder. 2018 ist auch das Atlas Festival aus Kiew beigetreten, das grösste Festival der Ukraine, das an sechs Tagen insgesamt über eine halbe Million Besucher:innen verzeichnet. Als der Krieg begann, starteten sie ein Fundraising, um Hilfsgüter für die Zivilbevölkerung wie Esswaren oder Decken zu kaufen. Der Atlas-Nachtklub in Kiew, den sie ebenfalls betreiben, diente dabei als Materiallager. Unter der Federführung von Programmchef Vlad Yaremchuk ist daraus wenig später die Stiftung Music Saves UA entstanden.

Diese Stiftung sammelt gemäss Website Geld für humanitäre Hilfe, Flüchtlingsunterkünfte, Evakuierungen oder Musikinfrastruktur. Was hat sie bisher erreicht?

Sie haben extrem viel umgesetzt. Unter anderem kauften sie medizinische Geräte für ein Rehabilitationszentrum für Menschen, die aufgrund von Kriegsverletzungen Gliedmassen verloren haben, aber nicht versichert sind. Oder sie bauen in den zerstörten Städten die Kulturzentren wieder auf, damit es wieder kulturelle Angebote geben kann – auch für Kinder, etwa Gitarrenunterricht oder Handarbeit. Um ihr Engagement zu ehren, haben wir von Yourope ihnen den «Take a Stand»-Award 2022 verliehen.

Welche Rolle spielt dabei der Festivalverband Yourope, den du leitest?

Christof Huber, 1970, ist bei abc Gadget Partner und Leiter Festivals. Er ist Festivaldirektor des Openair St. Gallen und des Summerdays Festivals in Arbon, die beide zu abc Gadget gehören. Ausserdem ist er Präsident von Yourope, der Vereinigung der europäischen Festivals. (Bild: Sara Spirig)

Christof Huber, 1970, ist bei abc Gadget Partner und Leiter Festivals. Er ist Festivaldirektor des Openair St. Gallen und des Summerdays Festivals in Arbon, die beide zu abc Gadget gehören. Ausserdem ist er Präsident von Yourope, der Vereinigung der europäischen Festivals. (Bild: Sara Spirig)

Um die Botschaft von Music Saves UA möglichst weit nach Europa zu tragen, sind die Festivals mit ihren vielen Besucher:innen der wichtigste Kanal. Deshalb bieten ihnen viele unserer Mitglieder eine Plattform an den Festivals und helfen selber auch mit, alle auf unterschiedliche Weise. Michal Kaščák, der das Pohoda-Festival in der Slowakei organisiert, war inzwischen siebenmal in der Ukraine – er hat Krankenwagen direkt von Trenčín an die Front gefahren. 2023 war Music Saves UA an etwa 25 Festivals in ganz Europa präsent und führte verschiedene Aktionen durch, von Spendenaktionen über Becherdepotsammlungen bis zum Verkauf von Merchandising.

Waren sie auch am Openair St.Gallen? Oder wie unterstützt ihr sie?

Sie waren nicht persönlich da, weil das Openair nicht in ihren Tourplan mit all den anderen Festivals passte. Aber wir haben in unserem Shop auf dem Festivalgelände ihr Merchandise verkauft. Abgesehen davon haben wir 2022 pro verkauften Festivalpass 1 Franken für die Ukraine gespendet, damals noch an die Glückskette. Das waren immerhin 30’000 Franken.

Was ist das Ziel dieser «Music Ambassadors Tour»?

Letztlich geht es darum, dass wir auf diese Hilfsplattform aufmerksam machen. Deshalb hat Music Saves UA im Dezember 2022 erstmals verschiedene Leute aus der Musikbranche – sogenannte Ambassadoren – in die Ukraine eingeladen, damit sie sich selber ein Bild davon machen können, wie das Leben in einem Kriegsgebiet ist, anstatt es nur erzählt zu bekommen. Dieses Jahr gab es wieder eine solche Tour. Also habe ich mich angemeldet. Within-Temptation-Gitarrist Robert Westerholt war auch dabei, ausserdem ein Journalist und verschiedene Festivalvertreter.

Wie nah hast du den Krieg miterlebt?

Ich hatte grossen Respekt vor dem Aufenthalt in der Ukraine, weil es wenige Tage vor meiner Abreise wieder massive Angriffe auf Charkiw und Kiew gab. Selbst in der Nacht vor unserer Ankunft. Bombeneinschläge habe ich in diesen paar Tagen zwar nicht gehört. Aber schon am ersten Tag in Kiew bekamen wir während der Stadtbesichtigung über eine App eine Luftangriff-Warnung. Wir haben uns dann in einer U-Bahn-Station in Sicherheit gebracht. Wenn eine Warnung vorbei ist, bekommt man über die App eine Audiobotschaft: «The air alert ist over. Stay safe. May the force be with you» – gesprochen von Mark Hamill, dem Darsteller von Luke Skywalker in Star Wars. Solche Warnungen gab es in den folgenden Tagen immer wieder, auch direkt vor der Rückreise nach Warschau.

Konntet ihr Kiew trotzdem planmässig verlassen?

Unser Zug fuhr um 6 Uhr morgens, wir hatten in der Nacht bereits zweimal jeweils eine Stunde im Keller verbracht. Ich wollte den Zug auf keinen Fall verpassen, also haben wir uns trotz der Gefahr neuer Luftangriffe auf den Weg zum Bahnhof gemacht. Die Züge fahren immer, ob es gerade einen Angriff gibt oder nicht. Sie transportieren seit Kriegsbeginn Flüchtende, Hilfsgüter und Verletzte. Man nennt die Eisenbähnler:innen deshalb «die eisernen Leute».

Wo wart ihr überall?

Wir waren in Butscha, wo die russischen Truppen das schreckliche Massaker verübt hatten, in Borodjanka, einer Stadt, in der ganze Stadtteile komplett zerbombt sind, in Irpin, einem Vorort von Kiew, und in Tschernihiw nahe der Grenze zu Belarus. Wir wollten auch Charkiw besuchen, das ging wegen der Angriffe jedoch nicht. Man steht dann mitten in den Ruinen, und nebenan ist ein Spielplatz mit Kindern oder ein Fussballplatz mit tiefen Kratern, auf dem ein paar Jungs tschutten. Das ging mir extrem nahe. So viel ist kaputt, aber das Leben geht irgendwie weiter.

Was habt ihr in diesen Städten gemacht?

Meist haben wir die kulturellen Institutionen besucht, vor allem jene, für deren Wiederaufbau sich Music Saves UA engagiert. Der Tenor war überall: «Nach dem Sieg werden wir die Wiedereröffnung feiern.» Diese Überzeugung und Willensstärke der ukrainischen Bevölkerung sind beeindruckend. In Kiew haben wir ausserdem Radiostationen besucht, die heute Kriegsradios sind, also Armeesender für die Soldaten. Und am letzten Abend gab es in einem Klub ein Treffen mit etwa 120 Kulturmanagern und Veranstalter:innen inklusive Panel-Diskussionen. Das Ziel ist, dass ukrainische Bands im Ausland auftreten können. Noch wichtiger wäre aber, dass ausländische Bands in die Ukraine kommen würden.

Ist das realistisch?

Das muss sich noch zeigen. Es kommt auf die Sicherheitslage an. Diesen Sommer soll das Atlas Festival wieder stattfinden. In kleinerem Rahmen, mit maximal 15’000 Leuten. Und auf einer Plattform, unter der es eine Tiefgarage hat, die als Schutzraum dienen würde. Wenn internationale Künstler:innen kommen würden, hätte das eine viele grössere Aussenwirkung, als wenn ich ein Video poste, das 1000 Leute sehen. Sie hatten auch Nemo angefragt. Sein Booker hat mich dann angerufen und gefragt, ob ich das machen würde.

Was hast du geantwortet?

Man muss kurz vor dem Anlass die Situation beurteilen. Wenn ich jetzt entscheiden müsste, würde ich ihm raten zuzusagen. Wenn Nemo als ESC-Gewinner oder eine andere Band dort auftreten würden, wäre das ein brutal wichtiges Zeichen. Hierbei möchte ich unterstützen.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir hatten Anfang Mai einen telefonischen Austausch mit allen, die in der Ukraine dabei waren, und schauen nun, wer wie hilft. Mit Yourope wollen wir eine Art Werkzeugkasten entwickeln, der jedem Festival die passenden Instrumente anbietet, um am besten zu helfen.

Wie willst du helfen?

Mein Ansatz ist der Zugang zur Kultur. Wie soll jemand Musikunterricht nehmen können, wenn alle Instrumente kaputt sind? Wenn es keine Proberäume gibt, kein Equipment, keine Ton- und Lichtanlagen? Dort will ich versuchen zu helfen, persönlich, aber auch mit dem Openair St. Gallen und dem Summerdays Festival. Und mit Yourope werden wir uns nochmal an einem Fundraising beteiligen.

 

Video zur Music Ambassadors Tour 2024:

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