«Es braucht mehr Akzeptanz in der Gesellschaft»

Die Ostschweizer Musikszene blüht. Gerade in den vergangenen Tagen und Wochen sind viele neue, sehr gute Platten erschienen. Und immer mehr Künstler:innen versuchen, von der Musik zu leben, was oft auf Unverständnis stösst. Saiten hat einige von ihnen zum Interview getroffen.
Von  David Gadze
Lorenz Niederer, Vanessa Engensperger, Livia Heim, Mirco Glanzmann und Barbara Egli vor dem Proberaum von Fraine. (Bild: Sara Spirig)

In den vergangenen Wochen sind viele neue Alben von Ostschweizer Musiker:innen und Bands erschienen. Zwei davon – Dachs und Fraine – teilen nicht nur die Musiker, sondern taufen ihre neuen Platten an zwei aufeinanderfolgenden Abenden. Saiten hat Mirco Glanzmann (Fraine, Dachs, Yes I’m Very Tired Now), Livia Heim alias Livia Rita, Barbara Egli (Frantic), Lorenz Niederer (Silentbass) und Vanessa Engensperger alias Skiba Shapiro zum Gespräch getroffen. Im Proberaum von Fraine unterhielten wir uns über Vernetzung, Förderung und die Wahrnehmung regionaler Musik.

Saiten: Die Ostschweizer Musikszene ist in den vergangenen paar Jahren richtiggehend aufgeblüht. Ihr seid selbst Teil davon, wobei einige von euch genau in dieser Zeit musikalisch mitgewachsen sind, andere sind schon länger da. Wie nehmt ihr das wahr, von innen quasi?

Lorenz Niederer: Ich habe Silentbass vor fast 20 Jahren gestartet. Damals gab es in St.Gallen einige wenige Aushängeschilder wie The Shell, sonst war nicht viel los. Heute ist alles viel farbiger. Ich fand es schon immer spannend zu schauen, was hier läuft. Diese Entwicklung ist jedenfalls sehr cool.

Barbara Egli: Absolut. Ich bin mehr in Richtung Wil orientiert, da wir auch eher dort musikalisch vernetzt sind. Was mir dort aufgefallen ist: Viele der Bands, die es vor zehn Jahren gab, sind inzwischen wieder verschwunden.

Livia Heim, 1991, tritt unter ihrem Künstlernamen Livia Rita auf. Kürzlich hat sie ihre erste Platte Fuga Futura veröffentlicht. Sie kommt aus Nesslau, pendelt aber zwischen dem Toggenburg, Zürich und London. Seit Anfang November wohnt sie vorübergehend im Bergrestaurant Bündner Rigi.

Livia Heim: Ich komme aus Nesslau. In meiner Kindheit war St.Gallen für uns die grosse Stadt, wo wir jedoch ganz selten hingegangen sind. Später bin ich nach Zürich gezogen, dann nach Paris und London. Heute pendle ich zwischen dem Toggenburg, Zürich und London, deshalb bin ich mit der Ostschweizer Musikszene nicht sehr vertraut. Für mich war die Ostschweiz immer mehr ein Rückzugsort. Ich bekomme auch selten Konzertanfragen aus der Ostschweiz. Ich arbeite zwar immer wieder mit einzelnen Personen aus der Region zusammen, einer bestimmten Szene fühle ich mich dadurch aber nicht zugehörig.

Mirco Glanzmann: Man merkt, dass die Szene seit einiger Zeit auch national mehr Beachtung bekommt. Vor ein paar Jahren gab es gewissermassen einen kleinen Boom, mit Crimer, Panda Lux und anderen. Diese Aufmerksamkeit hat der ganzen Szene gutgetan. Es kommen beispielsweise mehr Leute an die Konzerte, und zwar nicht nur in der Fremde, sondern auch hier. Gleichzeitig habe ich manchmal das Gefühl, dass jene Leute, die nicht so musikaffin sind, die lokalen Künstler:innen und Bands immer noch als «niedlich» abstempeln und ihr Schaffen nicht richtig ernst nehmen. Es braucht also nochmal einen Schritt, damit die Leute merken, dass die Szene hier wirklich sehr gut ist.

Wie intensiv verfolgt ihr selbst das Musikschaffen in eurer Region?

MG: Sehr fest. In meinem Freundeskreis haben alle etwas anderes auf dem Radar. Dadurch bekomme ich mit, was läuft, unabhängig davon, ob ich diese Musik selber höre oder nicht. Und man gönnt sich gegenseitig den Erfolg. Wenn eine Band etwas erreicht, das man selbst gerne auch erreichen würde, gibt es trotzdem sehr viel Wohlwollen.

BE: Man freut sich füreinander, wenn es gut läuft. Ich versuche, die Plattentaufen von anderen Bands aus der Region zu besuchen.

MG: Plattentaufen sind auch immer eine gute Gelegenheit, um sich mit anderen Musikerinnen und Musikern aus der lokalen Szene zu treffen. Eine Art Klassentreffen.

MG: Genau.

LH: Gehst du dann vor allem wegen den Leuten hin oder wegen der Musik?

MG: Schon wegen der Musik. Aber auch im Wissen, dass es meistens ein strenger, weil später Abend wird. (lacht)

Michael Gallusser hat kürzlich in Saiten gesagt, dass er einen «Szenetreff» vermisst, eine Beiz, in der sich Musiker treffen. Konzertlokale könnten diese Funktion nur teilweise übernehmen. Fehlt euch das auch?

MG: Ich verstehe diese Sichtweise. Mein Bedürfnis erfüllen jedoch die Konzerte der lokalen Bands. Ausserdem sieht man sich auch sonst sehr oft.

Vanessa Engensperger: Die Reithalle ist für mich so ein Ort. Dort trifft man sich, es gibt gelegentlich sogar kleinere Konzerte.

MG: … oder das Disorder Bandraumfestival, an dem sich dann auch die teilnehmenden Bands treffen.

LH: Für mich sind solche Treffpunkte sehr wichtig, etwa die Zentralwäscherei in Zürich, wo es Proberäume gibt, Ateliers, ein Restaurant und einen Club. Oder kennt ihr das Rathaus für Kultur in Lichtensteig? Dort gibt es auch eine Künstlerresidenz, Proberäume, Ateliers, ein Café. Das fördert den Austausch. Und es geht oft auch um die Frage, wie man gemeinsam mehr Kraft entwickelt und gesellschaftsrelevanter wird.

Was braucht es dafür?

LH: Erstmal mehr Akzeptanz in der Gesellschaft. Ich werde jedenfalls oft als herziges Mädchen vom Land belächelt.

Lorenz Niederer, 1985, ist seit bald 20 Jahren mit seinem Post-Rock-Projekt Silentbass unterwegs. Anfangs eine One-Man-Band, spielt Niederer seit 2018 mit dem Schlagzeuger Alessandro Cappilli. Der Stadtsanktgaller ist Inhaber einer Storenfirma und lebt seit drei Jahren in Herisau.

LN: An seinem Heimatort belächelt zu werden, ist fast schon normal. Wenn eine amerikanische Band hier ein Konzert spielt, gilt das oft schon als Leistungsausweis. Klar hat sie viel Dreck gefressen, bis sie es bis hierher geschafft hat, aber lokale Bands werden anders beurteilt.

BE: Das stimmt. Auch die Veranstalter sind oft skeptisch gegenüber lokalen oder regionalen Bands, und diese Skepsis nimmt zu, je weiter weg man geht. Das Kriterium, dass man eine gewisse Anzahl Zuschauerinnen und Zuschauer in den Club locken muss, ist aber nachvollziehbar.

Eine Situation, die sich seit der Covid-19-Pandemie noch verschärft hat, weil nicht mehr gleich viel Publikum kommt wie vorher.

VE: Viele Konzertlokale schauen auch, ob man in der Nähe kürzlich aufgetreten ist, bevor sie einen buchen. Dabei ist es logisch, dass man als wenig bekannte lokale Band erstmal vor allem in der eigenen Region spielt.

MG: Das ist eben die Schattenseite der blühenden Szene. Es gibt inzwischen sehr viele Bands, und diese wollen auch Konzerte spielen. Schwierig ist, wenn die Veranstalter das finanzielle Risiko auf die Band abwälzen. Wenn man mit der Konzertgage nicht einmal die Benzinkosten decken kann, stimmt das Verhältnis nicht mehr. Das kann zwischendurch mal okay sein, wenn man beispielsweise im Ausland auftritt. So etwas steigert die Aufmerksamkeit in der Heimat. Aber wenn man kein Label oder keine Bookingagentur im Rücken hat, die einen pusht, wird es schwierig, mit der Musik Geld zu verdienen.

Wie wichtig und hilfreich ist für euch vor diesem Hintergrund ein Netzwerk zu anderen Musikerinnen und Musikern?

BE: Solche Netzwerke sind sehr wertvoll. In Wil gibt es den Kulturverein Soundsofa. Das ist eine tolle Plattform für den Austausch und die Förderung der lokalen Bands. Aber an sich sind wir als Band eine sehr eingeschworene Gemeinschaft und verbringen auch viel Freizeit zusammen. Das ist auch der Grund, warum es uns nach so langer Zeit immer noch gibt.

VE: Die Musikergemeinschaft ist mir sehr wichtig. Als ich aufwuchs, war ich überall eine ziemliche Aussenseiterin. Erst seit ich Musik mache, weiss ich, wie es ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der alle anderen auch etwas schräg sind und einen unkonventionellen Weg gehen, was hier oft verpönt ist – umherzudümpeln statt einem «richtigen» Job nachzugehen. Für mich war es sehr wertvoll, mich auf diesem Weg nicht allein zu fühlen, sondern zu sehen, dass das gut und wertvoll ist.

LH: In Nesslau bin ich ein farbiger Kauz. Ich finde es schön, wenn man Teil einer Szene sein kann, ohne ständig dabei sein zu müssen. Solche Szenen braucht es. In der Zentralwäscherei in Zürich ist eine offene Szene entstanden, in der man sich gegenseitig befruchtet. Wenn ich neue Musik schreibe, arbeite ich aber lieber allein. Ich fühle mich dann freier. Ich tauche zwar auch gerne in verschiedene Pools ein, aber ich werde gestresst, wenn ich zu lange unter Leuten und in Strukturen bin – und verliere die Perspektive. Einen festen Freundeskreis, der sich jedes Wochenende trifft, habe ich nicht.

Vanessa Engensperger, 1990, macht seit 2018 solo als Skiba Shapiro Musik. Davor war sie Sängerin und Gitarristin des Duos Hopes & Venom, das 2013 den zweiten Platz beim Nachwuchsbandwettbewerb BandXOst erreichte, und Keyboarderin bei Lou Ees. Bei der Winterthurer Indie-Rock-Gruppe Death Of A Cheerleader spielt sie Gitarre. 2018 bekam sie Werkbeiträge der Stadt St.Gallen und des Kantons. Sie lebt in St.Gallen.

VE: Ich hatte früher auch immer das Gefühl, mich als Frau beweisen zu müssen. Beweisen zu müssen, dass mein Platz in der Szene gerechtfertigt ist. Beim Gitarrespielen war ich deshalb anfangs sehr verunsichert, weil ich das Gefühl hatte, jeder beurteilt, ob ich gut oder schlecht spiele. Ich fühlte mich als Einzelkämpferin und erst mit der Zeit als Teil der Gemeinschaft.

BE: Als ich mich Frantic angeschlossen habe, waren auch Bassisten in der Auswahl, die viel besser waren als ich. Die Band aber meinte, es passe – weil es einfach passe. Das merkt man auch heute noch. Bei uns besteht allerdings manchmal die Gefahr, dass wir vor lauter Gemütlichkeit in der Beiz sitzen bleiben, anstatt zu proben, und so das Musikmachen etwas vernachlässigen. Wir hatten zwischenzeitlich etwas Mühe, wieder in den kreativen Prozess hineinzufinden. Jeder hat einen tollen Job, viele haben Familien gegründet. Bei uns geht es nicht, ohne dass wir ein klares Ziel haben.

Mirco, Fraine sind gewissermassen die Netzwerkband in St.Gallen. Du und Fabio spielt gleichzeitig auch bei Yes I’m Very Tired Now, ausserdem seid Peer und du bei Dachs.

MG: Das ist sehr erfüllend, aber nicht immer ganz einfach. Dadurch, dass wir von Fraine in verschiedenen Bands spielen, mussten wir plötzlich die Erwartungen aneinander klären. Insbesondere die Frage, wie wichtig die Band noch ist. Das mussten wir diskutieren. Mir persönlich wäre es inzwischen jedenfalls zu wenig, nur in einer Band zu spielen, weil mir das Musikmachen sehr wichtig ist, aber auch der Austausch untereinander. Es gibt aber auch den materiellen Austausch. Man hilftsich untereinander aus. Ich benütze ab und an verschiedene perkussive Instrumente von Elio Ricca. Und unsere neue Platte haben wir im Studio von Alwin Büchler und Reto Langenegger (Bright) aufgenommen, das gleich neben unserem Proberaum ist. Beziehungen sind aber auch ausserhalb der lokalen Szene wichtig.

In drei Bands gleichzeitig zu spielen, ist allein schon zeitlich eine Herausforderung, oder?

MG: Ja. Und ich habe dieses Jahr gemerkt, dass alles miteinander etwas zu viel wird. Deshalb habe ich mein Arbeitspensum reduziert, um mehr Zeit für die Musik zu haben und allem gerecht werden zu können. Den drei Bands, aber auch meiner Freundin und der Familie. Wir bekommen im Dezember ein Kind. Mit den Bands gibt es ausserdem oft Terminkonflikte, mit Proben, mit Konzerten. Bei aller Liebe zur Musik ist es teilweise eine organisatorische und logistische Herausforderung, das Equipment zur richtigen Zeit im richtigen Proberaum zu haben. Eine gute Wochenplanung hilft, dass ich nicht an meine Grenzen komme.

LH: Das Materialschleppen ist der langweiligste Teil von allem, nicht? (lacht)

MG: Vor allem ist es der strengste Teil. Aber es gehört dazu.

Die Chance, das Arbeitspensum zu reduzieren, haben nicht alle. Ein Luxus?

MG: Ja, das ist ein Privileg. Finanziell kann ich den Lohnausfall durch die Musik nur teilweise kompensieren. Aber ich gewinne Lebensqualität. Es gibt viele, die nicht verstehen, warum ich diesen ganzen Aufwand auf mich nehme – für eine «Freizeitbeschäftigung».

Wie sieht es mit der Förderung aus? Stadt und Kanton zahlen Werkbeiträge oder stellen Infrastruktur wie Proberäume zur Verfügung. Müsste die öffentliche Hand noch mehr leisten?

MG: Natürlich sagt keine Band Nein, wenn sie mehr Geld bekommt. Finanzielle Förderung ist extrem wichtig, sonst könnten sich Bands beispielsweise Albumproduktionen gar nicht leisten, weil sie ohnehin schon viele Ausgaben haben.

Reicht das also oder bräuchte es noch mehr?

Mirco Glanzmann, 1990, gründete 2009 mit seinem Bruder Fabio (Gesang), Keyboarder Christian Huber und Bassist Peer Füglistaller die Indie-Pop-Band Fraine, wo er am Schlagzeug sitzt. Ausserdem ist er Drummer der Bands Yes I’m Very Tired Now und Dachs. Er lebt in St.Gallen.

MG: Ich kann nachvollziehen, dass es eine Hürde sein soll, an die öffentlichen Gelder zu kommen. Mehr Unterstützung der öffentlichen Hand wäre aber sicher willkommen, sei es nur durch einen zusätzlichen Bandbus der Stadt. Der eine, den das Kulturbüro hat, ist immer ausgebucht, weil die Nachfrage so hoch ist. Schon das würde vielen Bands helfen. Oder Beiträge an ihre Alltagskosten für die Musik. Es braucht aber auch mehr Proberäume. Hier müsste die Stadt ein grösseres Angebot schaffen.

LH: Ich finde, Kunst braucht mehr Förderung. Ich setze ganz auf die Musik, und für mich ist es extrem schwierig, nur schon ein Grundbedürfnis wie ein eigenes Zimmer zu bezahlen. Wenn man Musik als etwas Gesellschaftsrelevantes anschaut, als einen Job, müsste ich mir davon wenigstenseinen Mindestlohn bezahlen können. Das funktioniert mit den Fördermitteln, die ich bekomme, bei weitem nicht, und ich arbeite schon sehr lange daran. Ich lebe gewissermassen zwischen den Bänken. Für einen Normalbürger macht ein solches Leben überhaupt keinen Sinn.

VE: Es herrscht immer noch diese bürgerliche Sichtweise vor, dass die Musik kein Job ist, sondern ein Hobby. Ich habe auch jahrelang nur nebenbei gejobbt, um mich ganz auf die Musik konzentrieren zu können. Es war immer ein Kompromiss.

Wie wichtig ist denn auch ein Nachwuchswettbewerb wie BandXOst, der in den vergangenen Jahren sehr viel grösser geworden ist – und zwar nicht nur als Förderinstrument, sondern auch für den Austausch, für das Beziehungsnetz?

VE: Ich bin ein grosser Fan vom BandXOst. Ich habe dort auch mitgemacht und die meisten Kontakte in die Musikszene am Anfang dort geknüpft. Das war für mich der Einstieg in die Musikszene.

LN: Das ist ein sinnvolles Förderinstrument. Der BandXOst hat sicher auch einen Anteil am Aufblühen der Ostschweizer Musikszene.

MG: Wir haben vor rund zehn Jahren mitgemacht. Es war das erste Mal, dass wir von aussen Feedback bekommen haben. Das war für uns sehr wertvoll. Und wenn man die Szene damals und heute vergleicht, sind die Bands viel besser geworden. Das Niveau ist stark gestiegen.

VE: Sehr wertvoll ist ja auch, dass man in der Jury oft auch Ansprechpersonen findet, die einem helfen wollen und können, weil sie oft selber Musiker sind. Die bereit sind, ihr Wissen zu teilen, statt es für sich zu behalten. Und der gemeinschaftliche Umgang unter den Bands ist sehr schön.

Sprechen wir noch über eure Bands. Mirco, du hast gesagt, dass es nicht immer einfach war und ist, in drei Bands zu sein. Aber es gibt bestimmt auch Vorteile.

MG: Natürlich. Einerseits rein musikalisch. Bei Fraine arbeiten wir rein analog, bei Yes I’m Very Tired Now ist vieles elektronisch, und bei Dachs ist es oft eine Mischung aus beidem. Ich kann bei allen drei Bands diese Dinge einbringen. Andererseits was den Umgang untereinander betrifft. Bei Yes I’m Very Tired Now arbeiten wir sehr professionell, der Fokus liegt voll auf der Musik. Ich brauchte fast ein Jahr, bis ich mich richtig wohl gefühlt habe, bis ich das Gefühl hatte, musikalisch zu genügen. Dachs ist harmonischer. Und Fraine ist vergleichsweise wie ein Familienausflug, weil wir uns schon so lange und so gut kennen.

Und musikalisch? Gibt es einen Einflussfluss?

MG: Mir hat sehr geholfen, dass mich Yes I’m Very Tired Now auf grössere Bühnen katapultiert hat. Musikalisch hatte es insofern einen Einfluss, dass ich anders Schlagzeug spielen musste. Das hat sich bestimmt auch auf die Musik von Fraine ausgewirkt. Bei Dachs kann ich es noch zu wenig beurteilen, weil wir noch zu wenig lang dabei sind.

Euer neues Fraine-Album ist sehr sphärisch, aber auch sehr dicht.

MG: Wir haben alles in unserem Proberaum beziehungsweise Studio aufgenommen. Bis auf den Mix und das Mastering haben wir alles selbst gemacht. Wir fühlten uns wohl und selbstbewusst genug, diesen Prozess alleine zu bestreiten. Möglich wurde dies durch intensive Arbeit zu fünft und die Extrameile, die Fabio für diese Produktion ging. Wir haben das Album live eingespielt, also brauchte es immer ein Take, das für alle gut war. Gewisse Takes haben wir bis zu 20-mal aufgenommen. Und man merkt, dass wir Zeit hatten, daran zu arbeiten. Bei Dachs ist das ganz anders. Basil schreibt die Songs, er nimmt sie auf, wir spielen sie live. Bei Yes I’m Very Tired Now ist es ähnlich, Marc bringt die Songs, wir arrangieren sie, das wars.

Musstet ihr in den Diskussionen, die es durch die anderen Bands brauchte, auch definieren, welches die Hauptband ist?

MG: Nein, es gibt keine Rangliste, für keinen von uns. Bei Konzerten ist es so, dass jene Band, die einen Termin zuerst bucht, diesen für sich gesichert hat.

Livia, deine Musik ist mehr als Klang, sie ist ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk. Wie entsteht sie?

LH: Ich arbeite an der Musik immer gerade dort, wo ich bin. Die Melodien schreibe ich meistens draussen in der Natur. Dieser Prozess ist immer an einen Rückzugsort gebunden.

Merkst du einen grossen Unterschied, wie deine Musik hier und in London wahrgenommen wird?

LH: In Zürich ist es ähnlich wie in London. In der Ostschweiz ist es aber anders. Viele verstehen das, was ich mache, nicht genau. Es ist etwas Wildes, etwas Subversives. Viele denken, die Musik könne gar nicht gut sein, wenn es das Drumherum gibt. Ich habe generell bei der Schweizer Musikszene manchmal das Gefühl, dass die Leute die Musik nicht ernst nehmen, sobald sie die im Kontext einer Performance lesen. Dann gehört es für sie ins Theater und passt nicht auf ihre Konzertbühne und in ihre Musikkonzepte. Da wünschte ich mir etwas mehr Offenheit.

Barbara, von Frantic hat man fünf Jahre lang nichts gehört. Welchen Stellenwert hat die Band heute noch für euch, wo ihr alle Familien habt?

Barbara Egli, 1986, stiess 2005 als Bassistin zur Wiler Indie-Pop-Gruppe Frantic, die zwei Jahre später mit ihrem Debüt Change auch ausserhalb der Region auf sich aufmerksam machte. Seither folgten drei weitere Alben. Barbara Egli lebt mit ihrer Familie in Trogen und arbeitet als Lehrerin.

BE: Vor zehn Jahren haben wir dreimal in der Woche geprobt. Dann haben alle ungefähr gleichzeitig Familien gegründet. Kürzlich spielten wir an einem Openair, und in der ersten Reihe standen unsere Kinder. Das war wunderschön. Die Band hat aber nie aufgehört, zusammen Musik zu machen, obwohl es zunehmend schwieriger wurde, genügend Zeit für die Kreativität zu haben. Das haben wir aber mittlerweile in den Griff bekommen.

Das ist ja auch ein Bekenntnis, wenn man sich trotz Familie und Beruf einen Tag für die Band reserviert.

BE: Genau. Und man bereitet sich dadurch fokussierter auf die Proben vor, weil die Zeit dafür knapper ist.

Lolo, Silentbass war lange dein Soloprojekt, bevor du mit Schlagzeugern zu arbeiten begonnen hast.

LN: Silentbass ist für mich Ausgleich. Andere gehen nach einem strengen Arbeitstag joggen oder ins Yoga, ich mache Musik. Silentbass ist mein Yoga. Ich bin auch in einer anderen Band (The Peoples Republic), dort ist der Arbeitsprozess ein anderer.

Als es noch eine One-Man-Band war, wie wichtig war dir der musikalische Austausch mit anderen Musikern?

LN: Ich habe das immer sehr geschätzt. Egal ob allein oder bei The Peoples Republic. Ich brauche beides, dieses vertiefte Alleine-oder-zu-zweit-Musizieren genauso wie das Bandleben.

Vanessa, du hast schon in diversen Projekten mitgespielt, als Skiba Shapiro bist du nun allein unterwegs. Ist das befreiend?

VE: Ich fand es immer schwierig, mit anderen zusammenarbeiten. Vielleicht weil ich mit klassischem Klavier aufgewachsen bin, das Gemeinschaftliche kam bei mir erst später dazu. Selbst beim Duo Hopes & Venom konnte ich mich nicht richtig davon lösen, allein zu arbeiten. Bei Lou Ees entwickelte ich Keyboardklänge zur Musik, bei diesem Prozess war ich also oft auch allein. Und bei Death Of A Cheerleader spiele ich das, was ich spielen muss – ich bin nicht die Songwriterin. Als Skiba Shapiro kann ich mich jetzt ohne Kompromisse ausleben.

 

 

Fraine – The Art Of Escapism

Als «Brücken in die uns umgebenden Welten» bezeichnen Fraine die Realitätsflucht, die ihrem zweiten Album The Art Of Escapism zugrunde liegt. Die musikalische Übersetzung ist der St.Galler Indie-Pop-Gruppe mehr als gelungen. Sie hat ein einnehmendes Album voller Schönheit geschaffen. Da ist kein Ton zu viel und keiner zu wenig, nichts Effekthascherisches, das hat die Band gar nicht nötig. Die Musik von Fraine zieht ihre Kraft aus der Sparsamkeit. Hier stimmt alles: Das starke Songwriting, die sorgfältigen Arrangements, die ausgeklügelten Spannungsbögen, die schönen Melodien, der ausgezeichnete Klang, die wohlig-melancholische Stimmung. Vom ersten bis zum letzten Ton ist hier alles an seinem Platz, vom sphärischen Intro, das sanft in die wunderbaren ersten beiden Stücke einleitet, bis zu den letzten Pianoklängen, die dieses Schmuckstück abschliessen.

Live: 16. Dezember, Grabenhalle St.Gallen (Plattentaufe)

 

Dachs – Aber irgendöpis zwüschedine

Aber irgendöpis zwüschedine markiert einen Neuanfang: Die dritte Platte von Dachs ist gewissermassen Basil Kehls erstes Soloalbum. Der Stadtsanktgaller schrieb die Songs allein, nahm sie allein auf – und war nach dem Ausstieg von Lukas Senn Anfang dieses Jahres (und bis zum Einstieg von Mirco Glanzmann und Peer Füglistaller von Fraine im Frühling) auch als Musiker allein. Der Platte tut das keinen Abbruch – im Gegenteil. Auch musikalisch orientiert sich Kehl neu. Der bunte, funkelnde Elektropop ist nicht mehr so überbordend, sondern klingt im besten Sinne gereift. Und doch ist die kindlich-unbeschwerte Verspieltheit, die der Musik von Dachs so viel Charme gibt, genauso erhalten geblieben wie Kehls Sprachwitz. Die Authentizität spiegelt sich auch in den persönlichen Songs, in denen oft nachdenkliche Töne zu hören sind.

Live: 15. Dezember, Salzhaus Winterthur; 17. Dezember, Palace St.Gallen (Plattentaufe)

 

Silentbass – Constructor

Fast fünf Jahre musste man auf neue Musik des St.Gallers Lorenz Niederer alias Silentbass warten. Mit Constructor beweist er nun einmal mehr sein Talent für organischen Post-Rock: Die vielförmigen Bassfiguren, die auch mal wie Gitarren klingen, verbinden sich mit den dynamischen Drums von Alessandro Cappilli, mit dem Niederer seit dem letzten Album Circles zusammenarbeitet, zu einer vielschichtigen Klanglandschaft. Genauso, wie die sechs rein instrumentalen Stücke nahtlos ineinander übergehen und sich zu einem in sich geschlossenen Werk zusammenfügen, sind auch die beiden Musiker hörbar zusammengewachsen. Vieles ist im Loop, und doch dreht sich Silentbass im eigenen Klang-dickicht nie im Kreis. So ist Constructor äusserst kurzweilig – und, als einziges Manko dieser Platte, mit einer Spielzeit von gerade mal 30 Minuten leider etwas kurz.

Live: 3. Dezember, Grabenhalle St.Gallen (Plattentaufe);
Support: Skiba Shapiro

 

Livia Rita – Fuga Futura

Fuga Futura ist kein gewöhnliches Album. Es ist eine eigene Welt. Im Zentrum der Musik steht die ausdruckstarke Stimme von Livia Rita, die von geistiger und sexueller Befreiung singt, von gesellschaftlichem Wandel und von mythischen Kreaturen. Der Art-Pop der Toggenburgerin erinnert oft an Björk, ohne wie eine billige Kopie der isländischen Ausnahmekünstlerin zu klingen. Die Musik ist kontrastreich, in stetem Fluss, mal sanft treibend, mal mitreissend, nie langweilig. Ob im sphärischen Eröffnungsstück Just Happier oder in Expired Crystal mit den stampfenden Beats: Fuga Futura hat eine klangliche Vielfalt, deren Sog man sich kaum entziehen kann. Noch beeindruckender ist das alles live, wenn mit ausgefallenen Kostümen, schrillen Figuren und Tanz-Performances in ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk entsteht. Fuga Futura ist ein ganz starkes Debüt, das auf mehr hoffen lässt.

Live: 10. Dezember, Grabenhalle St.Gallen

 

Frantic – Owls & Birds

Lange war es still um Frantic. Sechs Jahre sind seit ihrem letzten Album Go Go Go On! vergangen. Nun meldet sich die Indie-Pop-Band aus Wil mit einem neuen Mini-Album zurück. Owls & Birds unterstreicht, dass die fünf ihr Gefühl für eingängige Melodien nicht verloren haben. Die Eulen und Vögel stehen dabei «für Tag und Nacht, für Dunkelheit und Leichtigkeit». Allerdings haben die Gute-Laune-Tagvögel den Schnabel klar vorne. Oder anders gesagt: Die Wärme, die den Songs von Frantic seit jeher innewohnte, dominiert auch in den acht neuen Stücken. Wirklich neu sind allerdings «nur» deren sechs – Summer Of 22, das stärkste Stück der EP, gibt es auch in einer reduzierten «Sunday Morning Version», zudem findet man eine «Owl Version» des Songs Sorry vom 2011-er Album French Fountain. Auch wenn nicht alles gelingt – Stuck In Repeat klingt so, wie es heisst, und Treasured Love ist zu oberflächlich – ist es schön, dass Frantic wieder da sind.