Erst wird besetzt, geräumt wird zuletzt
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Kuppelzelte fallen in St.Gallen vor allem im Sittertobel auf, wenn das Openair-Publikum seine Zeltstadt errichtet. Die halbrunden Zelte sind praktisch, günstig, schnell aufgebaut und nutzen den Platz optimal. Das macht sie nicht nur zu einer der beliebtesten Campingbehausungen, sie sind auch die häufigste Bauform in Protestdörfern: Wenn Menschen gemeinsam und sichtbar für ihre Anliegen eintreten, wenn sie den öffentlichen Raum besetzen und bleiben, dann stehen dort sehr oft die kleinen, bunten Stoffkuppeln. Das war so 2011 während Occupy London, 2019 beim Free Land Camp in Brasilia oder 2020 beim Klimacamp auf dem Bundesplatz.
Die Kuppelzelte setzen ein Zeichen, sie markieren den Raum, bieten Schutz vor dem Wetter und ermöglichen etwas Privatsphäre. Und obwohl sie kaum mehr sind als ein bisschen Gestänge, sind sie Architektur, in diesem Falle Protest-Architektur. Sie sind Manifestationen des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Zustände, gegen staatliche Gewalt, gegen die Vereinnahmung von Räumen aufgrund privater, wirtschaftlicher oder politischer Interessen.
Neuchlen-Anschwilen mittendrin
Die Vielfalt der baulichen Protestzeichen ist derzeit im Zeughaus Teufen zu sehen. Die sehenswerte Ausstellung «Protest/Architektur» zeigt die baulichen und räumlichen Qualitäten der temporären Widerstandsarchitekturen und spannt dabei den Bogen weit auf, sowohl zeitlich als auch typologisch und geografisch. Sie reicht von der Julirevolution 1930 in Paris bis zu den Protesten in Haifa im März 2023. Sie führt zum Arabischen Frühling 2011 bis 2013 in Kairo und zum Putschversuch in Burundi 2015, zu den Protesten in Hong Kong 2014 und 2019 gegen die Einflussnahme Chinas und zu den Camps gegen die geplanten Rodungen ab 2012 im Hambacher Wald.
Und mittendrin die Schweiz: Die Anti-Waffenpatz-Bewegung Neuchlen-Anschwilen von 1990/91 erhält verdienten Raum in der Ausstellung. 633 Tage dauerte die Besetzung des Areals, verhindert werden konnte der Bau des Waffenplatzes nicht, aber das Augenmerk auf die ökologischen Implikationen der Schweizer Armee ist seither gestiegen. Mit vier Tagen Dauer war Shantytown Zürich eine viel kürzere Aktion, sie richtete sich gegen die Kommerzialisierung der Stadt. Weitere Schweizer Beispiele sind die Berner Studierendenproteste 2009 oder das Sans-Papiers-Protestcamp 2010 in Bern.
Von der Versammlung bis zur Räumung
Die Ausstellung verzichtet konsequent auf Modelle und Nachbauten, um die Proteste nicht zu verniedlichen. Anschaulich werden die Aktionen und Camps trotzdem: Das gezeigte Bildmaterial ist von grosser Ausdruckskraft. Es ist in Plakatgrösse reproduziert und – dem Thema angemessen – provisorisch an Holzlatten getackert.
«Protest/Architektur»:
bis 9. Juni, Zeughaus Teufen
Die Fakten werden in kurzen, nüchternen Texten beschrieben, was sowohl zur Menge des Materials als auch zur neutralen Ausstellungsposition passt. 13 internationale Cases und fünf Schweizer Cases werden ausführlicher präsentiert. Ausserdem werden Typologien vorgestellt von den Barrikaden bis zu den Verzögerungsbauten auf hohen Stützen oder in Bäumen, um die Polizeiräumungen zu erschweren. Auch die Ingenieursbauten bilden eine Kategorie, denn seit Gottfried Sempers Barrikadenbau 1849 beim Maiaufstand in Dresden haben sich immer wieder auch Profis für die Protest-Architektur engagiert.
Und schlussendlich blendet die Ausstellung nicht aus, wie es meistens endet: Die Staatsgewalt greift durch. In einem 20-minütigen Video zeigt der Filmemacher Oliver Hardt die fünf Phasen des Protestes: versammeln, bauen, leben, standhalten, auflösen. Aber wie auch immer die Sache ausgeht, im «Chaotendorf» 1981 in Zürich hiess es treffend: «Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ihr unsere Gedanken räumen könnt.»