Erinnerung an einen möglichen See

Ein einziges Foto gibt es von Inés und ihrem Vater. Als kleines Mädchen steht sie da an der Hand ihres grossen, schlanken Vaters, der als «Peronista», als Anhänger des 1974 verstorbenen Juan Perón, im Jahr 1977 getötet wurde. Auf seine Spur begibt sie sich mit ihrem Buch, jetzt, wo sie selber schwanger und nicht sicher ist, ob sie mit dem Vater ihres Kindes zusammenleben will. Inés‘ Biographie ist typisch für viele junge Argentinierinnen.
Die Militärjunta, die sich 1976 in einem von Gewalt und Korruption geprägten Land an die Macht putschte, setzte in der Folge zu einer Säuberungsaktion an, die mit anderen rechtsgerichteten Regierungen in den Nachbarländern koordiniert war und als «dreckiger Krieg» in die Geschichte einging.
Kurz nach der Machtübernahme kündigte General Luciano Benjamín Menéndez an: «Wir werden 50’000 Menschen töten müssen. 25’000 Subversive, 20’000 Sympathisanten, und wir werden 5’000 Fehler machen.» Die Opfer des dreckigen Krieges wurden meist als verschwunden gemeldet und deshalb später «Desaparecidos» genannt.
Schwimmen mit dem Renault 4
Ein Desaparecido ist auch Inés‘ Filmvater. Einer, der immer weiter verschwindet, der aus der Erinnerung seiner Hinterbliebenen erlischt. Die Fotografie von Inés mit ihrem Vater wurde an einem See im Süden Argentiniens aufgenommen, wo sie mit ihrer Familie jahrelang den Sommer verbrachte. Dorthin kehrt der Film immer wieder zurück.
Einmal schwimmt die kleine Inés im See. Sie plantscht und spritzt und lacht. In ihre Erinnerung hat sie sich eine Vaterfigur hinein imaginiert. Er schwimmt mit ihr in Form eines grasgrünen Renault 4, als jenes Auto also, das die Familie früher von der Stadt zum See transportiert hat und das Inés klarer sieht als die fleischliche Vaterfigur. Diese verschwimmt in der Gegenwart am Bildschirm, als Inés den Vater auf der Fotografie vergrössert, bis nur noch eine verpixelte Augenpartie zu sehen ist.
Und er droht endgültig zu verschwinden. Denn über einen DNA-Test, für den Inés und ihr Bruder einen Tropen Blut vergiessen müssen, kann der Vater möglicherweise als eine der Leichen in gefundenen Massengräbern identifiziert werden. Die Tränen der Mutter zeigen, dass sie noch immer von einem Wiedersehen träumt. Ihre Tochter sagte ihr schon als Kind: «Ich weiss nicht, warum du immer noch wartest.» Mutter und Tochter gehören zwei argentinischen Generationen an, die durch politische Wirren weit auseinandergedrängt wurden.
Viel Raum für wortloses Schauspiel
La idea de un lago ist inspiriert vom Foto- und Gedichtbuch Pozo de aire der Argentinierin Guadalupe Goana, deren Vater ebenfalls von der Militärdiktatur beseitigt wurde. Sowohl das Poetische wie auch die zentrale Bedeutung von Bildern prägen La idea de un lago.
La idea de un lago: ab 13. Juli, Kinok St.Gallen
kinok.ch
Obschon die Zeitebenen sich unaufhörlich verschieben, bleibt der Film unaufgeregt und lässt viel Raum für wortloses Schauspiel und das Wirken kunstvoller und berührender Bilder. Vieles dreht sich um Inés (Carla Crespo) und ihre Mutter Tessa (Rosario Bléfari). Beides sind grossartig geschriebene und besetzte Rollen. Die ganze Zerrissenheit, der Schmerz, die Liebe und die Gewalt werden zwischen den Bildern und Dialogen erfahrbar, sie zeigen sich in einem tanzenden Taschenlampenreigen im dunklen Wald, als Inés und ihr Bruder mit ihren Cousins Verstecken spielen, in einem zu Boden krachenden Ast und in Augen und Zügen von Carla Crespo und Rosario Bléfari.
La idea de un lago zeigt eine ruhige Oberfläche, aber darunter spürt man eine gewaltige Anspannung. Zwischen den berührenden Bildern und starken Frauen, in diesem Argentinien der 70er- und 80er-Jahre und der Gegenwart, ist ein permanentes, bedrohliches Summen wie von Starkstromleitungen bei hoher Luftfeuchtigkeit zu hören.