, 5. November 2019
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Erdogans Geisel

Deniz Yücel ist Journalist. Ein Jahr lang war er im Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt. Im vollen Palace St.Gallen schilderte er am Montag, was er dort erlebte.

Nach dem gescheiterten Militärputsch von 2016 schwang sich Recep Tayyip Erdogan zum Alleinherrscher der Türkei auf. Er liess Tausende Kritiker und vermeintlich Oppositionelle verhaften. Auch viele Journalistinnen und Journalisten verschwanden hinter Gittern. «Man packte sie gleich busweise ein», erzählte Deniz Yücel am Montag im «Palace» anlässlich einer Lesung. Doch nein, eine Lesung war das nicht. Yücel berichtete eloquent und in einem fast ununterbrochenen Strom über seine Erlebnisse.

Sein packender Bericht schlug den Saal zwei Stunden lang in Bann. Allen war am Ende klar: Unter Erdogan ist die Türkei keine Demokratie mehr, sondern ein autoritärer Staat, in dem Angst, Repression und Korruption dominieren. «Es regiert eine kriminielle Bande von Leuten», sagte Yücel. Und «kriminell» sagte er mit Bedacht. Denn in der Türkei gebe es keinen funktionierenden Rechtsstaat mehr, sondern nur noch eine lächerliche Fassade davon.

Überleben in der Isolationshaft

Yücel selbst wurde unter fadenscheinigen Vorwänden verhaftet. Man lastete ihm jahrealte Artikel an, die er als Türkei-Korrespondent der konservativen deutschen Zeitung «Die Welt» verfasst hatte. Erdogan brandmarkte ihn öffentlich als einen «Agentterroristen» – eine originäre Wortschöpfung des türkischen Machthabers.

Yücel kam ins Hochsicherheitgsgefängnis Silivri, das den Spitznamen «Promi-Gefängnis» hat, weil dort bekannte Namen einsitzen. Da Yücel Deutscher mit türkischer Abstammung und dazu ein international bekannter Medienschaffender ist, geriet seine Haft schnell zum Politikum und zum diplomatischen Zankapfel. Die deutsche Regierung bemühte sich um seine Freilassung, es gab eine internationale Solidaritätsaktion, die seine sofortige Freilassung forderte (#freedeniz). «Ich rechnete damit, etwa fünf Monate in Haft zu bleiben», berichtete Yücel. Dann aber überschlugen sich die politischen Ereignisse. Am Ende hatte es fast ein Jahr gedauert, bis er endlich wieder freikam. «Sie wollten mich einfach loswerden», erinnerte sich Yücel.

 

Deniz Yücel: Agentterrorist. Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie. Verlag Kiepenheuer & Witsch, ca. Fr. 32.–

Eindringlich schilderte er, wie er die lebensbedrohliche Isolationshaft in den Mauern und Gittern von Silivri überstand. Dabei half ihm nicht nur die internationale Solidarität, sondern auch sein unbedingter Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er entwickelte einen feinen Blick auf die Absurditäten eines autoritären Staates. «Es ist ja so vieles einfach nur grotesk», sagte er. Und gab zu erkennen, dass auch Humor helfen kann, schwierigste Situationen zu bewältigen.

Dies beschreibt er ausführlich in seinem Buch, dem er jenes Schimpfwort als Titel gab, mit dem ihn Erdogan bedacht hatte: «Agentterrorist».

Den Mächtigen auf die Finger schauen

Wie stabil ist Erdogans Herrschaft? Auf diese Frage konnte Yücel keine eindeutige Antwort geben. Für ihn ist Erdogans Einmarsch in Nordsyrien auch ein Überspielen innenpolitischer Schwächen, denn der starke Mann wirkt nach der Wahlniederlage seiner Regierungspartei AKP in Istanbul angezählt. Erdogan habe den grössten Fehler seiner politischen Karriere gemacht, als er die Wahl in der Hauptstadt wiederholen liess, um die drohende Niederlage auszumerzen. «Der Glanz der Unbesiegbarkeit ist jetzt angekratzt», so Yücel. Und er schob nach, dass einem anderen Autokraten, nämlich Putin, dies sicher nicht passiert wäre. Yücels Erklärung: Putin sei aus dem KGB gekommen, Erdogan hingegen nur aus den Istanbuler Verkehrsbetrieben…

Und was tut Yücel jetzt? Er ist mit Leib und Seele Journalist. In dieser Rolle sieht er es als seine Aufgabe an, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Wenn man dabei eins auf die Fresse bekomme, so sei dies halt hinzunehmen. Er sei ja nur inhaftiert worden, in Mexiko würden Journalisten gleich umgebracht.

Yücel will aber nicht zeit seines Lebens nur als Erdogans Geisel herumlaufen. Nachdem er das Buch über seine Erlebnisse verfasst und seine Lesereise in Europa beendet hat, will er sich neuen journalistischen Aufgaben zuwenden. Welche das auch sein werden – Deniz Yücel wird, kein Zweifel, eine engagierte Stimme für Demokratie und Meinungsfreiheit bleiben.

 

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