Entmenschlicht

Fast wie frische Wäsche flattern derzeit dutzende kleinere Texte auf Stofftüchern an einer Leine im Lattich-Quartier in St. Gallen. Auf einem der Tücher steht beispielsweise geschrieben: «Als Kind besuchte ich das Afrika-Gehege im Basler Zoo. Es hiess, das sei die Nachbildung eines Afrikadorfes, und wir glaubten das. Ich hatte es vergessen, bis das wieder in die Zeitungen kam. Heute weiss ich, dass es nicht echt war, sondern inszeniert».
Ein anderes von Hand geschriebenes Statement lautet: «Meine Eltern beherbergten Anfang der 1960er-Jahre einen schwarzen Jazz-Musiker. In Bern war er zuvor an vielen Orten abgewiesen worden. Meine Eltern wurden deswegen auch recht scheel angeschaut. Ein schwarzer Mensch war damals eine sehr grosse Ausnahme.»
Das sind zwei von zahlreichen Statements von Besucher:innen der Wanderausstellung «Nachdenken über das koloniale Erbe» der Künstlerin Cilgia Rageth. In ihrer interaktiven Ausstellung fordert sie die Leute auf, sich über einen rassistischen Aspekt der Schweizer Geschichte Gedanken zu machen; es geht um das von der heutigen Forschung noch immer nicht vollständig aufbereitete dunkle Kapitel der sogenannten «Völkerschauen».
Trommeln, tanzen, kochen
Ab dem frühen 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts holten weisse Europäer Menschen aus fernen Ländern und Kontinenten in Scharen nach Europa, um sie in Städten und Dörfern als «Exoten» oder sogar «Menschenfresser» den neugierigen Blicken von Franzosen, Österreichern, Deutschen oder Schweizern zu präsentieren. Neben Basel und Zürich war auch die Stadt St. Gallen ein Hotspot für das Ausstellen von «Wilden» und «Unzivilisierten» aus Afrika, Amerika und Asien.
Zwischen 1853 und 1930 fanden allein in St.Gallen mindestens 19 «Völkerschauen» statt. Die «Ausstellungsobjekte» reichten in den Schauen von einzelnen Männern, Frauen und Kindern bis zu Gruppen von teilweise mehr als 70 Menschen. Vor dem Publikum mussten die «Eingeborenen» trommeln, schreien, tanzen, kochen oder kämpfen. Während der Schauen wurden ganze – angeblich der Realität nachempfundene – Dörfer eingerichtet, die von den Besucher:innen durchwandert werden konnten. Die Idee der Veranstalter war es, den Besucher:innen die Lebensweise und Lebenswirklichkeit dieser «Fremden» möglichst authentisch näherzubringen.
Allerdings entsprachen die Darbietungen in der Regel alles andere als der Wirklichkeit. Kolportiert wurden vielmehr Stereotype und Klischees, die das weisse europäische Bildungsbürgertum aus Abenteuerromanen von Autoren wie beispielsweise Karl May oder Erzählungen und Reiseberichten von Kolonialist:innen kannten. Gezeigt wurde also eine inszenierte Realität, mit der die Erwartungshaltung des Publikums bestätigt werden sollte.
Rassismus als Geschäftsmodell
Auch wenn nach heutigem Erkenntnisstand die meisten Menschen mit Versprechen auf Geld offenbar freiwillig ihre Familien verlassen hatten, um für einige Jahre nach Europa zu reisen, war ihr Alltag in Europa alles andere als menschenfreundlich. Oft lebten sie zusammengepfercht unter menschenunwürdigen Bedingungen in kleinen Räumen, mussten von früh bis spät auf der «Bühne» stehen und arbeiten, oder sie wurden krank, weil sie sich mit einem Virus infiziert hatten, auf das ihr Körper nicht vorbereitet war.
Die Menschen erlebten täglich Rassismus, Ausgrenzung und Abwertung. Letztendlich waren sie lediglich die «Exoten» und «Andersartigen», auf deren Kosten sich die «auserlesene» und «überlegene» weisse europäische Bevölkerung belustigen konnte. Sie waren nicht nur Opfer von Rassismus, sondern auch Werkzeug eines lukrativen Geschäftsmodells.
Ausstellung: bis 6. Oktober St.Gallen (Lattich), 7. Oktober bis 4. November Trogen (Kantonsschule)
Heute Freitag, 16. September, ist Cilgia Rageth mit dem St. Galler Historiker Hans Fässler während der Ausstellung anwesend. Fässler hält um 19.30 Uhr ein Referat zum Thema Kolonialismus, Söldnerwesen und Menschenzoos.
Eine zentrale Figur dieser profitablen Menschenzoos des 19. und 20. Jahrhunderts war Carl Hagenbeck. Der deutsche Zoodirektor, Tierhändler und Rassist (dem die Deutsche Post zu seinem 150. Geburtstag 1994 eine Sondermarke druckte) arbeitete Hand in Hand mit Kolonialisten und sozialdarwinistisch geprägten Wissenschaftlern, um immer wieder neue Menschen aus fernen Kontinenten nach Europa zu bringen. 1888 veranstaltete Hagenbeck – der zu seiner Zeit vor allem durch die Einführung «naturnaher» Tiergehege in Zoos weltweit bekannt wurde – auch eine «Völkerschau» in St.Gallen mit dem Titel «Carl Hagenbeck’s anthropologisch-zoologische Singhalesen-Ausstellung». Die «Ausstellung» bestand aus etwa 50 Menschen sowie zwölf Elefanten und acht Zebus.
Ab den 1940er-Jahren verschwanden die «Völkerschauen» allmählich aus der Öffentlichkeit. Die neueste Forschung vermutet, dass die Schauen ganz einfach wirtschaftlich nicht mehr rentabel genug waren. Der Reiz des Neuen war verpufft. Ausserdem wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auch Kino und Fernsehen immer populärer, Medien, die Zuschauer:innen visuell noch stärker und authentischer in «fremde» Welten mitnehmen konnten.
Popkultur prägt rassistische Klischees bis heute
Aber gerade Filme und Fernsehen haben ab den 1960er-Jahren Klischees und Stereotype über dunkelhäutige Menschen und indigene Kulturen noch weiter kolportiert und in den Köpfen westlicher Gesellschaften zementiert. Die jüngsten Debatten über kulturelle Aneignung und Winnetou-Filme hat anschaulich gezeigt, wie Popkultur Verständnis und Wissen über indigene Völker in westlichen Kulturen bis heute prägt und teilweise missinterpretiert.
Die Epoche der «Völkerschauen» sowie die rassistische und koloniale Vergangenheit ist wissenschaftlich und historisch noch nicht vollständig aufgearbeitet, trotz des wichtigen Buchs Wildfremd, hautnah von Rea Brändle (Rotpunktverlag, 1995/2013), den Forschungen von St.Galler Historikern wie Hans Fässler oder Peter Müller oder der Masterarbeit von Achim Hoop: völkerschauen_achim_hoop.
Noch immer gibt es in St.Gallen Relikte aus der Kolonialzeit, die nicht nur menschenverachtend, sondern rassistisch sind, wie das «Haus zum Mohrenkopf» von 1625 an der Spisergasse. Bis heute ist dort ein Kopf einer schwarzen Frau mit klischeehaften roten Lippen zu sehen.
Wie soll mit solchen Artefakten umgegangen werden? Gehören sie weg, oder sollen sie uns auch in Zukunft an die düstere, menschenverachtende und rassistische Zeit der Menschheitsgeschichte erinnern?
Es sind spannende Fragen, zu denen die Künstlerin Cilgia Rageth das Publikum derzeit bei ihrer Open-Air-Wanderausstellung «Nachdenken über das koloniale Erbe» im Lattich-Quartier in St.Gallen einlädt.