Enten töten

Ralf Bruggmann, Autor in Speicher, hat 29 Kurzgeschichten unter dem Titel «Hornhaut» herausgegeben. Am Sonntag ist Buchvernissage in Teufen.
Von  Peter Surber

«Er kennt sie nicht. Er weiss nicht, wie alt sie ist oder in welchem Haus sie wohnt; er weiss nicht, wohin sie fährt, in jenem grossen schwarzen Audi, und wer sonst noch im Wagen sitzt; er weiss nicht, woran sie denkt, während sie wartet, und ob sie ihn sieht, dort am Küchenfenster. Sie hat keinen Namen, sie hat kein Gewicht, kein Gesicht, sie hat kein eigenes Leben, und wenn sie nicht am Strassenrand steht, existiert sie nicht; jedenfalls nicht in seiner Welt. Doch in jenen Minuten am Morgen ist sie da (…).»

Ralf Bruggmann hat ein Flair für Figuren wie diese «Frau ohne Bedeutung» (so der Titel der Kurzgeschichte): für Menschen, die sich flüchtig begegnen, Einsame, die keine Namen tragen, Paare, die sich fremd bleiben, auch wenn sie sich lieben. Die Schauplätze seiner Geschichten sind unbestimmt wie hier: eine Strasse, der Blick aus einem Fenster, ein Schlafzimmer, Innenräume zumeist, selten Landschaften.

Der Alltag kippt ins Drama

Die Auslöser seiner Szenen sind oft alltäglich – der Blick in die Kaffeetasse wie in der Geschichte «Enten töten», das Abspulen einer alten Kassette wie in «Mixtape», ein Fleck an der Zimmerdecke in «Vielleicht ein Tiger». Daran aber entzündet sich in wenigen Sätzen ein Drama: der Schreck über das Altwerden, die Leere in der Beziehung, Trennungen, ein verpasstes Leben. Seltener sind die Umschläge ins Glück: eine unvermutete Liebesnacht, ein Tanz. Das Entscheidende passiert im Kopf der Figuren – so hilft die Vorstellung, Enten zu töten, der namenlosen Frau für einen Moment über die Banalität des eigenen Lebens hinweg.

Ralf Bruggmann: Hornhaut. Wortlandschaften, Edition Outbird 2017
Buchvernissage: Sonntag, 3. Dezember, 14 Uhr, Zeughaus Teufen

Bruggmanns vordergründig realitätsnahe und manchmal erotische «Wortlandschaften» breiten sich auf brüchigem Boden aus und bergen überraschende Winkel. In den «Zehn Sätzen über Magdalena» (eine der wenigen Personen, die einen Namen bekommen hat) überlagern sich Traum- und Realwelt, Leben und Filmbilder – da hilft auch das rituelle Verbrennen des Romans Fifty Shades of Grey nichts.

Besonders rätselhaft ist «Die Verschwundene»: Eine Namenlose, die von Geburt an fast unbemerkt durch ein Leben geht, das «niemanden zu interessieren schien», bis sie eines Tages verschwunden ist – und ein letztes Tagebuch hinterlässt, dessen letzte Seiten «Schreibübungen ohne Inhalt» sind: aneinandergereihte Auslassungspunkte, schliesslich leere Seiten.

Alles relativ

Sprachskepsis wie in dieser Erzählung tönt bei Bruggmann immer wieder durch; unter anderem handelt gleich die erste Geschichte mit dem Titel «Sie denkt» von einer Frau, die sich in Relativierungen und Konjunktiven verrennt, weil ihr nichts gewiss ist und sich nichts mit Sicherheit sagen lässt.

Ralf Bruggmann (Bild: dachcom)

Vom Autor selber lässt sich hingegen mit Sicherheit sagen: Er hat Jahrgang 1977, lebt mit Familie in Speicher, ist Texter, hat mit einer Kurzgeschichte aus einem einzigen langen Satz (sie ist hier zu lesen) 2016 den ersten Schreibwettbewerb von Appenzell Ausserrhoden gleich doppelt gewonnen (Jury- und Publikumspreis). Jetzt legt er mit Hornhaut seine erste Buchpublikation vor. Bruggmann hat unter anderem auch schon für Ausstellungen im Zeughaus Teufen Texte verfasst; dort findet jetzt am Sonntag die Buchvernissage statt.