Eltern spielen den Klassenkasper
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Bekannt geworden ist die Komödie von Lutz Hübner und Sarah Nemitz in der Filmfassung von Sönke Wortmann von 2015. Was dort als «Übermass an Slapstick» kritisiert wurde, kann auf der Theaterbühne kaum zu viel des Guten sein. Eine grosse Szene wird entfacht, der Konflikt zwischen Eltern und Lehrpersonen mit hemmungsloser Subjektivität und emotionaler Entschlossenheit ausgetragen: Hysterie vs. Leidenschaft, Verzweiflung vs. Engagement, Egozentrik vs. Aufopferung.
Es klingelt in der kollektiven Erinnerung
Spannungsgeladen und in bedrohlichem Gestus beginnt das Stück. Komödie und Tragödie sind von Sekunde eins an ununterscheidbar. Umso schneller wird klar: Mitgegangen gleich mitgefangen. Kindergelächter und schrilles Schulglockengeläute aus den Lautsprechern vergegenwärtigen eigene Erlebnisse auf dem Pausenhof. Die Eltern warten. Dann: Auftritt Frau Müller (Diana Dengler), im grün-gepunkteten Kleid, dominant die roten Strümpfe, rammelvoll die Umhängetasche.
Erst einmal scheint alles aussichtlos. Ein Misstrauensvotum eines Elternkomitees treibt die Lehrerin in die Enge. Die Elternmeute besteht aus einem Weichei, einer fast integren Kunstvermittlerin, einem schwulen Pärchen und einer knallharten Juristin, die jedes ihrer Ziele erreichen will – wenn’s sein muss auch über Leichen.
Für sie alle steht fest: Schuld an den schlechten Noten der Schüler:innen der Klasse 5b ist die überforderte Frau Müller. Sogar zur Therapie geht sie, Physiotherapie – nicht einmal mehr Rückenschmerzen darf man haben. Ironie des Schulschicksals, dass es ausgerechnet die Eltern der grössten Störenfriede sind, die die Lehrerin als «Klassenkasper» beschuldigen.
Frau Müller muss weg, Lokremise St.Gallen, nächste Vorstellungen 29. und 31. Dezember, weitere Termine im Januar und Februar
Verstärkt durch explosive Ausbrüche und starke Dialogwitze prallen die Fronten im leicht angeschrägten, simplen aber wirkungsvollen Bühnenbild aus Holzbänken (Andreas Walkows) aufeinander – bis ein unerwarteter Twist alles wieder über den Haufen wirft. Obwohl teils sehr klischeehaft, gelingt es der Inszenierung besonders mit dezentem Einsatz verschiedener Requisiten und witzigen Lichteffekten (Rolf Irmer), kollektive Erinnerungen an die eigene Schulzeit zu aktivieren.
Am Ende gewinnt die «Irre, die gute Noten gibt», pädagogisches Konzept hin oder her: Hauptsache, die Zukunft der terrorisierten Kinder wird nicht versaut. Ob Frau Müller am Ende weg oder bleiben muss: Hin in die Lokremise muss, wer etwas lernen will!
Over-Acting im Klassenzimmer
Eine starke Qualität der Inszenierung von Anja Horst ist der Einsatz der Holzstühle als Sinnbilder von Autorität und Ordnung. Nach jedem Krawall werden die Positionen der Figuren neu konstruiert, die Rangordnung wird wieder verrückt. Wortwörtlich. Klangliche Intermezzi (Ralph Hufenus) erklingen humoristisch-akzentuiert und zum richtigen Zeitpunkt. Der Einsatz von Musik ist dezent, umso mehr wird der Spannungsaufbau durch die schauspielerische Leistung erzeugt.
Das Ensemble (Diana Dengler, Pascale Pfeuti, Oliver Losehand, Anja Tobler, Christian Hettkamp, Fabian Müller) verkörpert die «aufgebauschte Leistungsgesellschaft». Einmal mehr beweist allen voran Diana Dengler ihre starke Bühnenpräsenz und gibt unerschütterlich und einfühlsam Frau Müller, das Opfer. Im leichten Over-Acting-Stil agieren die Eltern, nicht weniger überzeugend, aber auch leichter durchschaubar.
Die Bühnenvorlage ist gespickt mit Humor und sozialen Red Flags. Die Inszenierung könnte jedoch etwas mehr körperliche Aktion zeigen. Szenen sind mehrheitlich von langen Monologen geprägt, die kaum mit zusätzlichen Stilmitteln verstärkt werden. Mehr Interaktion könnte zu intensiveren Spannungsmomenten führen. Der Fokus liegt so stark auf dem Text.
Starkes Commitment
Frau Müller muss weg ist eine Komödie mit hohem Identifikationsgrad. Durch häufige Publikumsadressierungen entspinnt sich ein Wechselspiel zwischen Komplizenschaft und Gefügigkeit. Frau Müller sucht beim Publikum tapfer nach Unterstützung und Verstärkung, die Eltern nach Bestätigung und Genugtuung.
Das Premierenpublikum reagierte entsprechend stark, kommentierte flüsternd, applaudierte, lachte peinlich berührt oder lauthals über Situationskomik und Dialogwitze. Das spricht für die starke Wirkung eines Stücks, das wie seine Figuren nach Unterhaltung «schreit» und zugleich zum Nachdenken anregt.