Eingriff ins System: Unsere Identität gehört uns

Wir alle haben unterschiedliche Identitäten, mit denen sich spielen lässt. Dies zeigte eindrücklich der Workshop mit dem britischen Künstler Heath Bunting in der Kunsthalle St.Gallen.
Von  Katharina Flieger

Andrea Leutenegger – seit Samstag hat St.Gallen einen neuen Bürger, bzw. eine neue Bürgerin, und hier fängt das Problem bereits an: Mann oder Frau? Andrea ist hierzulande ein ‚geschlechtsneutraler‘ Name. In der Schweiz sind Eltern bei der Namensvergabe ihres Kindes deshalb rechtlich gezwungen, mit einem zweiten Vornamen dessen Geschlecht zu definieren.

Die Angabe des Namens ist in westlichen Staaten neben Nationalität und Geburtsdatum die Minimalanforderung, um als natürliche Personen identifiziert werden zu können. Der britische Netz-Künstler Heath Bunting, welcher aktuell in der Ausstellung der Kunsthalle St.Gallen rund um das Darknet vertreten ist, hat mit seinem «Status Project» im Laufe der vergangenen zehn Jahre eine riesige Datenbank aufgebaut, mit deren Hilfe er untersucht, wodurch persönliche Identität in westlichen Gesellschaften definiert wird.

In vier Stunden zu einer neuen Identität?

In Grossbritannien kann er damit relativ einfach neue Identitäten kreieren: Mit Fake-Briefkästen besorgt er sich Postadressen, dank denen er in den Besitz von Kundenkarten grosser Warenhäuser gelangt. Mit diesen wiederum holt er sich beispielsweise Bibliothekskarten. So arbeitet er sich im System hoch und kreiert unterschiedliche Identitäten, die in den digitalen Netzwerken und administrativen Systemen des Staates leben. Bunting hinterfragt mit diesen Aktionen und den gesammelten Informationen Klassensysteme und die Macht der Staaten und des Kapitals.

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Heath Bunting, geb. 1966, lebt und arbeitet in Bristol.

ImWorkshop am vergangenen Samstagnachmittag in St.Gallen wollte Bunting versuchen, eine Schweizer Identität zu kreieren. Nach allgemeineren Diskussionen verbreitet sich Hektik, gemischt mit Ratlosigkeit: Welche Schritte müssen als erstes ausgeführt werden, um welche Ziele zu erreichen?

Die rund 15 Personen anwesenden Personen, vom Kunststudenten über die Kuratorin bis zum pensionierten Datenexperten, teilen sich in Gruppen auf, Online und Offline. Am Ende des Workshops können wir Andrea Leutenegger in unseren Kreis aufnehmen, wohnhaft an der Vadianstrasse 31, 9001 St.Gallen. Geboren am 13. Februar 1978, ausgerüstet mit Mailaccount und stolze Besitzerin einer Prepaid-Simkarte und einer Migros Cumulus-Karte, immerhin.

 «Aktivismus bedeutet, gute Antworten zu finden»
Heath Bunting versucht, das System zu seinem Vorteil zu nutzen, strategisch in der Tradition der Hacker: Sie greifen in ein System ein und machen damit bisher unsichtbare Prozesse sichtbar oder erzwingen eine Blickumkehr. Das kürzlich in der Reihe Edition digital Culture erschienene Buch Hacking beschäftigt sich mit der Rolle des Hacking in den Künsten. Heath Buntings Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Kunst und Aktivismus: «Kunst bedeutet, gute Fragen zu stellen – Aktivismus heisst, gute Antworten zu finden.»

Der spielerische Nachmittag in der Kunsthalle St.Gallen führte deutlich die Absurdität des von uns meist als ’normal‘ empfundenen Systems und dessen Regeln vor Augen. Das Bewusstsein dafür, wie die Bestandteile unserer Identität ineinander spielen, wurde gestärkt. Andrea Leutenegger scheint eine ermutigende Wirkung auf die Runde zu haben, eine der Erkenntnisse des Nachmittags: Es ist unsere Identität und nicht die des Staates – deshalb müssen auch wir über sie bestimmen können. 

Andrea Leutenegger würde sich übrigens über Nachrichten freuen: Kommentare können in Form von Briefen oder Postkarten an die Vadianstr. 31, 9001 geschickt werden. 

Hacking, Edition Digital Culture 2. Dominik Landwehr, Migros Kulturprozent (Hg.), Merian Verlag. 260 Seiten, 20 CHF.