«Einfach mal herein­kommen und schmökern» 

Susanne Uhl und Laura Bucher im Interview

Die Sangallensien-Sammlung der St.Galler Kantonsbibliothek Vadiana feiert ihr 200-Jahr-Jubiläum. Im Interview sprechen Kantonsbibliothekarin Susanne Uhl und Regierungsrätin Laura Bucher über den Sammelauftrag, niederschwellige Vermittlung und ihre Vorstellung einer Bibliothek der Zukunft.

Sai­ten: Die Kan­tons­bi­blio­thek ist nicht nur ei­ne Aus­leih-, son­dern auch ei­ne Sam­mel­in­sti­tu­ti­on. Die so­ge­nann­te Sangal­len­si­en-Samm­lung ist 200 Jah­re alt. Wo hat sie ih­ren Ur­sprung?

Su­san­ne Uhl: Die Sangal­len­si­en-Samm­lung be­stand ur­sprüng­lich aus et­wa 800 Druck­schrif­ten und Ma­nu­skrip­ten. Ge­org Le­on­hard Hart­mann (sie­he In­fo­block auf Sei­te 22) woll­te da­mit das kul­tu­rel­le Le­ben der Stadt St.Gal­len in sei­ner Zeit do­ku­men­tie­ren und ab­bil­den. 1825 hat dann ei­ne Vor­gän­ger­or­ga­ni­sa­ti­on der Kan­tons­bi­blio­thek die Samm­lung auf­ge­kauft. Das war der Grund­stein für un­se­re Sangal­len­si­en-Samm­lung. Schon da­mals wa­ren auch ei­ni­ge Bil­der und Sie­gel Teil der Samm­lung. Hart­mann hat al­so auch an­de­re Me­di­en als «nur» Bü­cher und Schrif­ten zum kul­tu­rel­len Er­be ge­zählt.

Wie hat sich die Samm­lung ent­wi­ckelt?

SU: Über die Jah­re hin­weg wei­te­te sich der Fo­kus von der Stadt auf den gan­zen Kan­ton aus, die Bi­blio­thek hat lau­fend wei­ter­ge­sam­melt und zu­sätz­li­che Be­stän­de in­te­griert. Mit dem tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt ka­men neue Me­di­en hin­zu: Fo­to­gra­fien, Pla­ka­te, Ton- und Film­do­ku­men­te, Di­gi­ta­les.

Wel­che Be­deu­tung hat die Sangal­len­si­en-Samm­lung fürs Pu­bli­kum, für die For­schung, aber auch für die Iden­ti­tät des Kan­tons?

Lau­ra Bucher: Zu­nächst ein­mal ei­ne ganz prak­ti­sche: Bei wis­sen­schaft­li­chen und an­de­ren Re­cher­chen muss ge­währ­leis­tet sein, dass zu­min­dest ei­ne Bi­blio­thek die St.Gal­ler Pu­bli­ka­tio­nen sys­te­ma­tisch sam­melt und ver­füg­bar hält. Das ist ei­ne zen­tra­le Staats­auf­ga­be und ge­setz­li­che Pflicht, im di­gi­ta­len Zeit­al­ter ent­spre­chend um On­line-Me­di­en er­gänzt. Die Ur­sprungs­idee die­ser Samm­lung war auch, dass sie als ei­ne Art kul­tu­rel­ler Ba­ro­me­ter das Le­ben und die Ge­sell­schaft ei­ner be­stimm­ten Zeit ab­bil­det. Mir ­ge­fällt die­ser Ge­dan­ke. Wie war die Stim­mung da­mals? Was hat die Ge­sell­schaft, was die Wis­sen­schaft be­wegt? Was stand in der Ta­ges­pres­se? Wel­che Bil­der wur­den ge­malt und be­trach­tet? Die­ser Ba­ro­me­ter er­streckt sich mitt­ler­wei­le über 200 Jah­re. Ein un­glaub­li­cher Schatz! Nicht nur für die Wis­sen­schaft, auch für al­le St.Gal­ler:in­nen: Das ist un­ser Er­be, un­se­re Ge­schich­te.

SU: Das Ba­ro­me­ter­bild ge­fällt mir in zwei­er­lei Hin­sicht. Ei­ner­seits: Was wur­de oder wird pro­du­ziert? Und an­de­rer­seits: Was wur­de oder wird als samm­lungs­wür­dig er­ach­tet? Die Fra­ge treibt nicht nur Fach­leu­te um. Was soll auf­be­wahrt wer­den, was zählt zum kol­lek­ti­ven Er­be und was nicht?

Wer ent­schei­det heu­te, was als Sangal­len­sie samm­lungs­wür­dig ist, und nach wel­chen Kri­te­ri­en?

SU: Wir ha­ben ein Team von zwei Per­so­nen, die sich die Ar­beit nach Me­di­en­typ auf­tei­len. «Samm­lungs­wür­dig» ist viel­leicht der fal­sche Be­griff, es geht um Voll­stän­dig­keit. Sangal­len­si­en sam­meln wir ja von Ge­set­zes we­gen. Aber im Be­reich pri­va­ter oder in­sti­tu­tio­nel­ler Nach­läs­se müs­sen wir oft Ent­schei­de zu­un­guns­ten ge­wis­ser Wer­ke fäl­len, wenn es sich zum Bei­spiel nicht um Sangal­len­si­en im en­ge­ren Sinn han­delt. 

Ab­ge­se­hen von in­halt­li­chen Ab­leh­nungs­grün­den gibt es si­cher auch prag­ma­ti­sche, zum Bei­spiel wenn Zeit und Per­so­nal feh­len, um Schät­ze aus gros­sen Nach­läs­sen zu he­ben.

SU: Kürz­lich hat­ten wir ei­nen sol­chen Fall. Uns wur­de die For­schungs­bi­blio­thek ei­nes re­nom­mier­ten Pro­fes­sors an­ge­bo­ten: rund 20'000 Bü­cher, dar­un­ter auch ei­ni­ge wert­vol­le, span­nen­de, sel­te­ne Aus­ga­ben. Lei­der muss­ten wir ab­leh­nen, auch weil wir schlicht kei­ne Ka­pa­zi­tä­ten ha­ben, den ge­sam­ten Be­stand zu prü­fen.

Sam­melt die Bi­blio­thek auch «graue Li­te­ra­tur», al­so sol­che, die nicht im Buch­han­del er­schie­nen ist?

SU: Ja. Das Team ver­sucht, al­le Sangal­len­si­en zu fin­den, was nicht im­mer ein­fach ist. Denn lei­der gibt es im Kan­ton St.Gal­len kei­ne Ab­ga­be­pflicht, wie es in Deutsch­land oder in den meis­ten West­schwei­zer Kan­to­nen der Fall ist. Das heisst, die Bi­blio­thek muss sel­ber su­chen und, je nach­dem, auch sel­ber kau­fen. Ob­wohl: Ei­ni­ge In­sti­tu­tio­nen, Ver­la­ge und Au­tor:in­nen schen­ken uns ih­re Wer­ke auch, wor­über wir uns sehr freu­en. Die Be­reit­schaft da­zu ist all­ge­mein hoch. Bei «grau­er Li­te­ra­tur» ist es schwie­rig, weil sie nicht auf öf­fent­lich zu­gäng­li­chen Lis­ten etc. er­scheint. Wenn es sich bei­spiels­wei­se um be­son­ders en­ga­gier­te Quar­tier­ver­ei­ne oder grös­se­re In­sti­tu­tio­nen han­delt, die Jah­res- oder Quar­tals­be­rich­te ver­fas­sen, und wir von ih­nen wis­sen, dann ge­hen wir ak­tiv auf sie zu.

War­um ist das Sam­meln von Sangal­len­si­en ei­ne Staats­auf­ga­be? Gä­be es nicht mehr als ge­nug Pri­va­te, die das oh­ne­hin schon tun?

LB: Pri­mär geht es um Zu­gäng­lich­keit und dar­um, dass das kul­tu­rel­le Er­be auch ge­nutzt wer­den kann. Da­her ha­ben wir ne­ben dem Sam­mel- auch ei­nen Ver­mitt­lungs­auf­trag. Ich se­he es als staat­li­che Auf­ga­be an, sich mit der Kul­tur und Ge­schich­te des Kan­tons zu be­fas­sen und sie für die Öf­fent­lich­keit ver­füg­bar zu hal­ten. So wie das Staats­ar­chiv das staat­li­che Han­deln do­ku­men­tiert, si­chert und be­wahrt die Kan­tons­bi­blio­thek das kul­tu­rel­le Er­be un­se­res Kan­tons. Das ist ihr ur­ei­gens­ter Auf­trag.

SU: Bei prak­tisch al­len pri­va­ten Samm­lun­gen stellt sich frü­her oder spä­ter die Fra­ge, wer sie über­nimmt. Der Kan­ton und sei­ne kul­tur­be­wah­ren­den In­sti­tu­tio­nen kön­nen ei­ne pro­fes­sio­nel­le und fach­ge­rech­te Auf­be­wah­rung und die ­Er­hal­tung der Wer­ke ge­währ­leis­ten. Nicht, dass das Pri­va­te nicht auch könn­ten. Aber die Bi­blio­thek hat hier ein­fach län­ger­fris­ti­ge­re Mög­lich­kei­ten. Auch zum Bei­spiel im Ka­ta­stro­phen- oder Kriegs­fall hat das staat­lich-in­sti­tu­tio­nel­le Netz­werk viel fle­xi­ble­re Struk­tu­ren, um das kul­tu­rel­le Er­be zu schüt­zen.

Man stel­le sich vor, es gibt ei­ne Sangal­len­si­en-Samm­lung und nie­mand geht hin. Wie ver­mit­telt man der Be­völ­ke­rung, was es al­les Schö­nes, In­ter­es­san­tes, Iden­ti­täts­stif­ten­des in der ­Kan­tons­bi­blio­thek zu ent­de­cken gibt?

LB: Die­ser kon­stan­te Samm­lungs­auf­trag hat un­ab­hän­gig von den kon­kre­ten Nut­zen­den­zah­len ei­ne gros­se Be­deu­tung. In­dem man aber die Be­völ­ke­rung in die Bi­blio­thek ein­lädt und er­mun­tert, auf Ent­de­ckungs­rei­se zu ge­hen, wird die­ser Aspekt noch stär­ker ge­wich­tet. Das schö­ne Turm­zim­mer, in dem wir die­ses Ge­spräch füh­ren, ist ein wun­der­ba­res Bei­spiel. Hier gibt es die et­was ei­gen­tüm­li­che Sys­te­ma­tik, nach der die Bü­cher geo­gra­fisch ge­ord­net sind. Hier kön­nen die Men­schen her­ein­kom­men und ein­fach mal et­was stö­bern, was es zu ih­rer Ge­mein­de oder Re­gi­on ei­gent­lich al­les gibt. Das ist si­cher ei­nes der nie­der­schwel­ligs­ten An­ge­bo­te der Kan­tons­bi­blio­thek. Das 200-Jahr-Ju­bi­lä­um der Sangal­len­si­en-Samm­lung gibt uns auch die Ge­le­gen­heit, der Be­völ­ke­rung in Er­in­ne­rung zu ru­fen, dass un­se­re Ge­schich­te und un­ser St.Gal­ler Kul­tur­gut hier vor­han­den und für al­le zu­gäng­lich sind. Die Kan­tons­bi­blio­thek bie­tet aber auch aus­ser­halb des Sangal­len­si­en-Ju­bi­lä­ums im­mer wie­der Le­sun­gen und an­de­re Ver­an­stal­tun­gen an.

In­wie­fern wür­de die neue Kan­tons­bi­blio­thek an ei­nem ein­zi­gen, zen­tra­li­sier­ten Stand­ort bei der Ver­mitt­lung hel­fen?

SU: Zum Bei­spiel beim The­ma Aus­stel­lun­gen. Vie­le un­se­rer his­to­ri­schen Be­stän­de la­gern in der Va­dia­na im Mu­se­ums­quar­tier, weil sie dort ent­spre­chend ge­schützt sind. Das Haus ist je­doch nicht auf gros­sen Pu­bli­kums­ver­kehr aus­ge­legt. An ei­nem zen­tra­len Stand­ort hät­te man die Ge­le­gen­heit, auch ein­mal zu­fäl­lig durch ei­ne Aus­stel­lung zu schlen­dern und sich in­spi­rie­ren zu las­sen und in al­ten Be­stän­den zu schmö­kern, oh­ne da­für ex­tra ins Mu­se­ums­quar­tier hin­über­wech­seln zu müs­sen. Ei­ne neue Kan­tons­bi­blio­thek er­mög­licht un­ter­schied­li­che Ver­mitt­lungs­an­ge­bo­te in den viel­fäl­tigs­ten For­men, die ak­tu­ell auf­grund der Be­ge­ben­hei­ten zu we­nig Frei­raum ha­ben. Ei­ne wich­ti­ge Vor­aus­set­zung für mög­li­che For­men von kul­tu­rel­ler Teil­ha­be. Aus­ser­dem gibts in der Va­dia­na wei­te­re bau­li­che Ein­schrän­kun­gen be­tref­fend Feu­er- und Denk­mal­schutz und kei­nen be­hin­der­ten­ge­rech­ten Zu­gang. Auch für das Ju­bi­lä­um hät­ten wir tol­le Aus­stel­lungs­ideen ge­habt, aber wir muss­ten uns dies­be­züg­lich ein­schrän­ken. Und um die his­to­ri­schen Be­stän­de in der Haupt­post aus­zu­stel­len, fehlt uns der Platz.

Was ver­ste­hen Sie un­ter ei­ner mo­der­nen «Pu­blic Li­bra­ry», wie sie für St.Gal­len an­ge­dacht ist?

LB: Für mich ist ei­ne Pu­blic Li­bra­ry ein Markt­platz des Wis­sens und der Ideen in ei­nem Ge­bäu­de, das je­der­zeit und für al­le zu­gäng­lich ist. Wo zu­fäl­li­ge Be­geg­nun­gen statt­fin­den kön­nen, wo Men­schen aber auch ge­zielt hin­ge­hen, um sich Wis­sen zu er­ar­bei­ten, sich zu hin­ter­fra­gen, wei­ter­zu­bil­den, zu ler­nen oder aus­tau­schen zu kön­nen. Oder auch ein­fach nur da sein, oh­ne et­was kon­su­mie­ren zu müs­sen. Ei­ne mo­der­ne Pu­blic Li­bra­ry ist ei­ne In­ves­ti­ti­on in Bil­dung, Kul­tur und ge­sell­schaft­li­che Teil­ha­be. Bi­blio­the­ken för­dern le­bens­lan­ges Ler­nen und Chan­cen­gleich­heit, ins­be­son­de­re für Men­schen oh­ne Zu­gang zu pri­va­ten Bil­dungs­res­sour­cen.

SU: Die Pu­blic Li­bra­ry ist ein Ort in der Stadt, wo al­le will­kom­men sind und bei ih­rem Wis­sen­stand und bei ih­ren In­ter­es­sen ab­ge­holt wer­den und Mög­lich­kei­ten er­hal­ten, mehr zu er­fah­ren oder zu ler­nen. Die Bi­blio­thek soll nicht nur Ant­wor­ten lie­fern, son­dern In­spi­ra­ti­on. Sie soll ein Ort sein, wo über Me­di­en und Be­geg­nun­gen neue Fra­gen und Ideen ent­wi­ckelt wer­den. Ab­ge­se­hen da­von darf die Bi­blio­thek aber auch ein­fach ein Auf­ent­halts­ort oder ein Treff­punkt sein. Dass das ein gros­ses Be­dürf­nis ist, mer­ken wir auch heu­te schon im Bi­blio­theks­all­tag. Und das ist nicht ein­mal ei­ne Al­ters­fra­ge, wie man sich das viel­leicht vor­stellt. Auch jün­ge­re Men­schen su­chen hier so­zia­len Kon­takt.

LB: Ein zen­tra­ler Aspekt ei­ner Pu­blic Li­bra­ry ist das Tei­len von Res­sour­cen und Wis­sen. Ihr Be­stand wird über An­schaf­fungs­vor­schlä­ge, die man heu­te schon ma­chen kann, ge­mein­sam mit dem Pu­bli­kum wei­ter­ent­wi­ckelt. Da­bei geht es nicht nur um Bü­cher und an­de­re Me­di­en, son­dern auch zum Bei­spiel um die Nut­zung von Räu­men, Sit­zungs­zim­mern, Lern­plät­zen oder Ma­ker Spaces, Re­pair Ca­fés und die «Bi­blio­thek der Din­ge» zur Aus­lei­he elek­tro­ni­scher Ge­rä­te oder an­de­rer Ge­brauchs­ge­gen­stän­de. Das ist sinn­voll und nach­hal­tig.

2023 führ­te der Kan­ton ei­ne Pu­bli­kums­be­fra­gung durch. Was wünscht sich denn das Pu­bli­kum von der neu­en Bi­blio­thek?

LB: Wir hat­ten ei­nen sehr er­freu­li­chen Rück­lauf mit über 1300 Stim­men aus dem gan­zen Kan­ton. Was mich per­sön­lich be­son­ders er­staun­te, war, wie häu­fig der Wunsch nach ei­nem Raum oh­ne Kon­sumpflicht ge­äus­sert wur­de. Dass man ein­fach ir­gend­wo hin­ge­hen und ein Buch oder die Zei­tung le­sen kann, oh­ne ei­nen Kaf­fee be­stel­len zu müs­sen. Häu­fig er­hiel­ten wir aus­ser­dem die Rück­mel­dung, dass un­ser An­ge­bot an phy­si­scher und di­gi­ta­ler Li­te­ra­tur, Zeit­schrif­ten, Zei­tun­gen und Re­cher­che­mög­lich­kei­ten schon heu­te sehr ge­schätzt wird.

Wel­che Rück­mel­dun­gen gab es aus Buchs, Weesen oder Rap­pers­wil-Jo­na? Wie stellt sich die Be­völ­ke­rung im Sü­den des Kan­tons ei­ne neue Bi­blio­thek in St.Gal­len vor?

LB: Die Ant­wor­ten ha­ben sich re­gio­nal gar nicht so stark un­ter­schie­den. Ein gros­ser Teil der Rück­mel­dun­gen kam von Leu­ten, die heu­te schon na­he am bi­blio­the­ka­ri­schen An­ge­bot sind. Er­freu­li­cher­wei­se ha­ben sich auch ei­ni­ge ge­äus­sert, die das An­ge­bot der Bi­blio­the­ken nicht oder nur we­nig nut­zen. Vie­le wün­schen sich zum Bei­spiel auch ge­nü­gend Lern­plät­ze oder mehr Raum für Ver­an­stal­tun­gen, wo­für man of­fen­bar ger­ne auch von et­was wei­ter weg nach St.Gal­len reist. Ob­wohl die Ge­mein­de­bi­blio­the­ken eben­falls sehr at­trak­ti­ve Ver­an­stal­tun­gen or­ga­ni­sie­ren. Auch ein Aus­bau un­se­res Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bots für die Ge­mein­de- und Schul­bi­blio­the­kar:in­nen wür­de sehr be­grüsst.

SU: Ich kann die Aus­wer­tung gar nicht so stark auf die Re­gio­nen run­ter­bre­chen. Wir ha­ben ein­fach fest­ge­stellt: Un­se­re Vor­stel­lung ei­ner Pu­blic Li­bra­ry ist ziem­lich de­ckungs­gleich mit den Rück­mel­dun­gen aus der Um­fra­ge. Es wur­den vie­le in­ter­es­san­te, teils rein in­di­vi­du­el­le Be­dürf­nis­se an uns her­an­ge­tra­gen. Ge­ra­de, was die Auf­ent­halts­qua­li­tät vor Ort be­trifft, wie «hey, ihr braucht be­que­me Stüh­le» oder all­ge­mein «we­ni­ger Be­ton, mehr Holz». An­de­re wün­schen sich wei­ter­hin ein so gu­tes und ger­ne noch grös­se­res elek­tro­ni­sches An­ge­bot wie «di­biost» (Di­gi­ta­le Bi­blio­thek Ost­schweiz, Anm.d.Red.). Zu­sam­men­ge­fasst: Die Men­schen wol­len nebst ei­nem schö­nen Ort ein mög­lichst brei­tes Me­di­en­an­ge­bot, di­gi­tal wie phy­sisch. Und ei­ne neue Bi­blio­thek un­ter­stützt und er­gänzt re­gio­na­le Bi­blio­the­ken, an­statt sie zu er­set­zen.

Der bür­ger­lich do­mi­nier­te Kan­tons­rat ist bei den Plä­nen für die neue Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek be­kannt­lich auf die Brem­se ge­tre­ten. Er for­dert Ein­spa­run­gen bei Bau und Be­trieb so­wie ei­ne stär­ke­re Be­rück­sich­ti­gung re­gio­na­ler Be­dürf­nis­se. Wo steht die po­li­ti­sche De­bat­te ak­tu­ell? Wie sieht der Fahr­plan aus?

LB: Wir sind mit­ten­drin in den Dis­kus­sio­nen. Be­züg­lich der bau­li­chen Re­di­men­sio­nie­rung ha­ben wir di­ver­se Prüf­auf­trä­ge er­teilt. Eben­so für die An­pas­sung des Be­triebs­kon­zepts, die zwangs­läu­fig er­folgt, wenn beim Bau ge­spart wer­den soll. Zu­dem ar­bei­ten wir die re­gio­na­le Bi­blio­theks­för­de­rung aus. Hier­für wer­den wir noch­mals ge­zielt auf die Bi­blio­the­ken im Kan­ton zu­ge­hen und dort die kon­kre­ten Be­dürf­nis­se ab­ho­len. Die Um­fra­ge und die Ver­nehm­las­sung ha­ben ge­zeigt, dass man mit der bis­he­ri­gen re­gio­na­len Bi­blio­theks­för­de­rung zwar zu­frie­den ist. Ein Aus­bau ist den­noch an­ge­zeigt, denn auch re­gio­na­le Bi­blio­the­ken sol­len und wol­len sich ge­mäss ih­ren Vor­stel­lun­gen zu Pu­blic Li­bra­rys ent­wi­ckeln.

Der Kan­tons­rat will spa­ren. Im Zen­trum wird dies ge­sche­hen, in den Re­gio­nen hin­ge­gen wird das För­der­an­ge­bot aus­ge­baut. Wie geht die­se Rech­nung am Schluss auf?

LB: Bei der Fra­ge von Zen­trum und Re­gio­nen ha­ben wir kein Ent­we­der-oder, son­dern ein So­wohl-als-auch. Al­le sind sich ei­nig: Das Bi­blio­theks­we­sen im Kan­ton braucht ei­ne star­ke Bi­blio­thek in St.Gal­len, die ge­mein­sam von Stadt und Kan­ton rea­li­siert wird. Für ei­nen Kan­ton mit jahr­hun­der­te­lan­ger Bi­blio­theks- und Wis­sens­tra­di­ti­on ist das auch ein ab­so­lut rich­ti­ger Ge­dan­ke. Von ei­ner star­ken Kan­tons­bi­blio­thek pro­fi­tie­ren auch die Ge­mein­de­bi­blio­the­ken. Der kla­re ge­setz­li­che Auf­trag zur Rea­li­sie­rung ei­ner zen­tra­len Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek be­steht seit 2014 und ist un­be­strit­ten. Dar­um ar­bei­ten wir an ei­ner gut aus­ta­rier­ten Lö­sung, die wir vor­aus­sicht­lich En­de Jahr dem Par­la­ment vor­le­gen wer­den.

SU: Be­tref­fend Re­gio­nen­för­de­rung liegt auch ein gros­ser Teil der Ver­ant­wor­tung bei den Ge­mein­den sel­ber. Die bi­blio­the­ka­ri­sche Grund­ver­sor­gung ist ge­mäss ak­tu­el­ler Ge­setz­ge­bung haupt­säch­lich in ih­rer Zu­stän­dig­keit.

Die Wah­rung der Ge­mein­de­au­to­no­mie im Bi­blio­theks­we­sen war 2014 in der De­bat­te ums Bi­blio­theks­ge­setz ex­pli­zit der Wunsch der bür­ger­li­chen Frak­tio­nen.

SU: Ge­nau. Die Fra­ge ist nun: Wo kann der Kan­ton hier zum Grund­an­ge­bot der Ge­mein­den re­spek­ti­ve je­nem der je­wei­li­gen Trä­ger­schaf­ten, die von den Ge­mein­den da­mit be­auf­tragt sind, er­gän­zend et­was bie­ten? Na­tür­lich sol­len sich al­le Bi­blio­the­ken wei­ter­ent­wi­ckeln kön­nen. In der Ar­beit der kan­to­na­len Fach­stel­le und in der Bi­blio­theks­kom­mis­si­on hat sich ge­zeigt, dass häu­fig schon klei­ne Mass­nah­men aus­rei­chen, um gros­se Wir­kung zu er­zie­len. Der An­satz ist da­her wie bis an­hin auch, sich an den ak­tu­el­len Be­dürf­nis­sen der Bi­blio­the­ken zu ori­en­tie­ren und ih­nen nach Mög­lich­keit nach­zu­kom­men.

LB: Ich möch­te auf kei­nen Fall das Bild er­we­cken, dass wir in der Stadt die per­fek­te, gros­se, mo­der­ne Bi­blio­thek ha­ben und auf dem Land ste­hen ein­fach ein paar stau­bi­ge Bü­cher­re­ga­le in ei­nem Schul­hau­sestrich. Im Ge­gen­teil: Es gibt vie­le sehr in­no­va­ti­ve Ge­mein­de­bi­blio­the­ken im gan­zen Kan­ton, die uns ei­ni­ges vor­aus­ha­ben und bei­spiels­wei­se schon ein Open-Li­bra­ry-Kon­zept um­ge­setzt ha­ben. Ich den­ke da et­wa an die Bi­blio­rii in Alt­stät­ten oder die Ge­mein­de­bi­blio­thek Fla­wil. Auch an­de­re Bi­blio­the­ken ha­ben sich zu rich­ti­gen Be­geg­nungs- und Fa­mi­li­en­zen­tren ent­wi­ckelt. Der Pu­blic-Li­bra­ry-Ge­dan­ke wird im Kan­ton al­so be­reits ge­lebt.

Zu­rück zur Sangal­len­si­en-Samm­lung: Wel­che grös­se­ren Sam­mel- oder Ent­sam­mel­pro­jek­te ste­hen bei der Kan­tons­bi­blio­thek an?

SU: Un­ser Be­dürf­nis geht eher Rich­tung Ver­grös­sern der Samm­lung. Lo­gisch. Aber na­tür­lich nicht als Selbst­zweck, son­dern der Voll­stän­dig­keit und der the­ma­ti­schen Brei­te hal­ber. Das kul­tu­rel­le Er­be des Kan­tons soll mög­lichst voll­stän­dig über­lie­fert und er­hal­ten wer­den. Ei­nen Fo­kus ha­ben wir der­zeit bei­spiels­wei­se auf un­se­re Pla­kat­samm­lung ge­legt. Ent­samm­lung – De­ak­zes­si­on heisst der Fach­be­griff da­für – ma­chen wir na­tür­lich nicht ger­ne. Aber ir­gend­wann wird auch bei uns der Platz knapp. Dann muss man sich bei den Sangal­len­si­en im ers­ten Schritt ein­mal über­le­gen, wie vie­le Ex­em­pla­re ei­nes Werks man be­hal­ten möch­te. Ak­tu­ell er­wer­ben wir bei den Sangal­len­si­en je­weils zwei Ex­em­pla­re, eins für die Aus­lei­he, eins als Si­che­rung. Von man­chen ha­ben wir aber auch meh­re­re.

Bü­cher las­sen sich auch bes­ser sta­peln als Mu­se­ums­ob­jek­te.

SU: Ge­nau, wir ha­ben noch et­was Spat­zig in un­se­ren Ma­ga­zi­nen. Aber wir ha­ben es in der Ge­schäfts­lei­tung für die­ses Jahr als Trak­tan­dum fest­ge­legt, weil un­se­re De­pots in et­wa fünf bis sie­ben Jah­ren voll sein wer­den.

LB: Die Fra­ge ist auch, wel­chen Ein­fluss die Di­gi­ta­li­sie­rung auf die ­Zu­wachs­ra­ten und die Platz­be­dürf­nis­se hat. Da ler­nen wir lau­fend da­zu. Auf je­den Fall wird man sich nicht von den phy­si­schen Me­di­en ver­ab­schie­den.

SU: Dem kann ich nur zu­stim­men. Der phy­si­sche Be­stand ist nach wie vor re­le­vant und die Bi­blio­the­ken set­zen hier auf ver­schie­de­ne nach­hal­ti­ge Lö­sun­gen, in­dem sie bei­spiels­wei­se ko­ope­ra­ti­ve Ma­ga­zin­lö­sun­gen rea­li­siert ha­ben oder auf ro­tie­ren­de Be­stän­de set­zen. Letz­te­res ist ge­ra­de im Be­reich fremd­spra­chi­ger Li­te­ra­tur ei­ne tol­le Sa­che und die Stif­tung Bi­blio­me­dia Schweiz stellt da ein gros­ses An­ge­bot zur Ver­fü­gung.

Ein ak­tu­el­les Gross­pro­jekt ist die voll­stän­di­ge Di­gi­ta­li­sie­rung des «St.Gal­ler Tag­blatts». Es gä­be aber auch noch an­de­re, für den Kan­ton iden­ti­täts­stif­ten­de Me­di­en­er­zeug­nis­se, wenn man nur schon an «Die Ost­schweiz» oder die «Ost­schwei­zer Ar­bei­ter­zei­tung» denkt, die es bei­de seit den 1990er-Jah­ren nicht mehr gibt. Denkt man auch über die Di­gi­ta­li­sie­rung die­ser Blät­ter nach?

SU: Bei sol­chen Pro­jek­ten geht es im­mer auch um Ko­ope­ra­ti­on. Di­gi­ta­li­sa­te die­ser Grös­sen­ord­nung und von die­ser Be­deu­tung soll­ten dann auch auf ei­ner na­tio­nal oder in­ter­na­tio­nal ge­nutz­ten Platt­form auf­ge­schal­tet wer­den und nicht ein­fach auf der Web­site der Kan­tons­bi­blio­thek. Das «Tag­blatt» kommt auf «E-News­pa­per Ar­chi­ves», ei­ne Platt­form, wel­che die Na­tio­nal­bi­blio­thek be­treibt.

LB: Wir ha­ben den di­gi­ta­len Le­se­saal, wo auch Be­stän­de des St.Gal­ler Staats­ar­chivs zu­gäng­lich sind. Wenn ein sol­ches Pro­jekt wie die «Tag­blatt»-Di­gi­ta­li­sie­rung mit öf­fent­li­chen Gel­dern fi­nan­ziert ist, muss auch die öf­fent­li­che Zu­gäng­lich­keit ge­währ­leis­tet sein.

SU: Wei­te­re Pro­jek­te sind si­cher denk­bar, aber man muss auch be­ach­ten, dass sie sehr kos­ten- und per­so­nal­in­ten­siv sind. Aus­sen­ste­hen­den ist der da­mit ver­bun­de­ne Auf­wand oft nicht be­wusst. Das «Tag­blatt»-Pro­jekt dau­ert nun schon Jah­re und bin­det vie­le Res­sour­cen. Ak­tu­ell sind bei­spiels­wei­se im Aus­stel­lungs­saal in der Va­dia­na sämt­li­che Zei­tungs­be­stän­de des «Tag­blatts» für den Wei­ter­trans­port zwi­schen­ge­la­gert. Das sieht recht wild aus.

LB: Aber ein Wunsch wä­re es na­tür­lich schon, nur schon, um die frü­he­re Pres­se­viel­falt ab­zu­bil­den.

Wenn wir schon beim Wün­schen sind: Hat die Kan­tons­bi­blio­thek ge­nü­gend Mit­tel, um al­les um­zu­set­zen, was wün­schens­wert oder von Ge­set­zes we­gen not­wen­dig wä­re? Oder gä­be es noch die ei­ne oder an­de­re kon­kre­te Bit­te an den Kan­tons­rat um Auf­sto­ckung der Gel­der?

LB: Wir wün­schen uns ein­fach, dass wir die neue Bi­blio­thek rea­li­sie­ren kön­nen. Un­se­re ge­sam­te Pla­nung, an der wir schon sehr lan­ge sehr in­ten­siv ar­bei­ten, ist dar­auf aus­ge­rich­tet. Das ist das vor­dring­lichs­te Ziel und un­ser gröss­tes Pro­jekt. Aber selbst­ver­ständ­lich steht die All­tags­ar­beit da­ne­ben nicht still. Und dank des Sangal­len­si­en-Ju­bi­lä­ums kön­nen wir jetzt in der Öf­fent­lich­keit auch wie­der ein­mal über ei­nen an­de­ren Aspekt re­den als nur vom Neu­bau­pro­jekt. Um zu zei­gen, dass wir auch un­se­ren Samm­lungs- und Ver­mitt­lungs­auf­trag sehr ernst neh­men.

SU: Zu mehr Mit­teln und mehr Per­so­nal sa­gen wir na­tür­lich nie Nein. Fast noch wich­ti­ger ist mir aber, dass wir nicht nur auf die Res­sour­cen­fra­ge fo­kus­sie­ren. Ich wün­sche mir vor al­lem ein Um­feld, das es uns er­mög­licht, un­se­rem ge­setz­li­chen Auf­trag an­ge­mes­sen nach­ge­hen zu kön­nen. Ein Um­feld, das den Wert der Pfle­ge des kul­tu­rel­len Er­bes und der Bi­blio­theks­ar­beit, die wir leis­ten, an­er­kennt und dies nicht ein­fach als «ein biss­chen Kul­tur­zeugs» und «pu­res Lu­xus­pro­jekt» ab­tut.

 

Die St.Gal­ler Kan­tons­bi­blio­thek Va­dia­na macht die Sangal­len­si­en-Samm­lung im Ju­bi­lä­ums­jahr 2025 auf viel­fäl­ti­ge Art und Wei­se er­leb­bar. Das Pro­gramm reicht von Thea­ter­vor­füh­run­gen über Ci­ti­zen Sci­ence bis hin zu ei­ner Wan­der­aus­stel­lung.

Voll­stän­di­ges Pro­gramm und wei­te­re In­fos: 
sangal­len­si­en2025.sg.ch