Eine Urne für The Fall in St.Gallen

Nein, St.Gallen wird nie zu einem Pilgerort der Fans von The Fall. Aber der Krebstod des Rädelsführers und Meister-Wortschmieds Mark E. Smith am 24. Januar im Alter von 60 Jahren bietet Anlass für die Erinnerung an ihr markerschütterndes frühes Konzert in der Ostschweiz: Am 2. Februar 1983 spielte Smith mit seiner Gruppe (er nannte sie «group» und nicht «band») auf der ersten Schweiz-Tournee nebst Biel, Basel, Zürich und Lausanne auch in St.Gallen. Noch nicht in der Grabenhalle, sondern im bürgerlichen Hotel Ekkehard. Das bot damals einen der wenigen verfügbaren Säle in der Stadt und hatte sich bereits bei Progrock-Konzerten der Africana-Veranstalter und einem Auftritt von Marianne Faithfull bewährt.
Vermittelt wurden The Fall über Zürcher RecRec-Kanäle, gebucht für St.Gallen von Aktivisten der «IG Kohle», die mit «mobilen Aktionen» wie Konzerten, Filmen, Performances und Festen für eine Aktionshalle der nicht-kommerziellen Kultur kämpften. Nach einem Testkonzert 1982 in der Turnhalle Graben mit der Anarchogruppe Schröders Roadshow (die von einer Hausbesetzung herangebraust kam) und Auftritten experimenteller Bands wie Skeleton Crew oder V-Effect im Colosseum oder in der AZ-Druckerei stand am Ende der Serie 1983 das Konzert von The Fall im Ekkehard. Ein Wagnis für alle Beteiligten, und Hotelier Ernst Leander wusste am wenigsten, worauf er sich da eingelassen hatte.

Mark E. Smith (rechts), Ansager Kälin und das Konzertplakat, auf dem pikanterweise (das verhasste) London steht, statt Manchester.
In der Schweiz kannten nur ein paar Eingeweihte die Gruppe aus Manchester, die damals schon fünf Alben veröffentlicht hatte, zwei davon 1982: Room To Live und Hex Enduction Hour. Untergrundblätter wie der Aarauer «Alpenzeiger» verbreiteten die Kunde, dass The Fall mit ihrem schlauen Sprechsänger und Schmähredner Mark E. Smith anders war als alle andern Bands seit der Punk-Explosion: ein fantastisch bockiges Konzentrat aus urbanem Rockabilly, hypnotischem Rock’n’Roll und Krautrock, Gene Vincent trifft Velvet Underground trifft Captain Beefheart trifft Can. Hatte man so noch nie gehört, erst recht nicht mit einer Haltung, die sich allen Schubladen und Umarmungen verweigerte. Prole Art Threat, proletarische Kunst-Bedrohung, hiess ein programmatischer Songtitel.
Ziemlich übellaunige Typen
So gross die Vorfreude bei den St.Gallern, so schnell ihr Stress: Da kamen keine feinsinnigen, freundlichen Avantgardisten aus New York, wie sich Comedia-Buchhändler Pius Frey erinnert, sondern Rock’n’Roll-Rabauken in Lederjacken, ungehobelte und ziemlich übellaunige Typen, imprägniert mit dem ganzen Stolz und Frust der nordenglischen Arbeiterklasse. Frey gehörte mit Chrigel Braun, Mathias Stebler, Budaz Keller und andern zur Ad-Hoc-Gruppe, die das Gastspiel organisierte.
Und es lief von Anfang an schief: Schon am Nachmittag dröhnten sich Smith und seine Musiker mit Bier, Whiskey und Speed zu, und die Drogen, die sie sonst verlangten, wollten und konnten die St.Galler ihnen nicht beschaffen. Den Risotto in der linken WG verschmähten sie und suchten stattdessen ein Hamburgerlokal; dass es ihre favorisierte Schnellfresskette im Städtchen nicht gab, sondern nur die andere, trug nicht zur Stimmung bei. Smith selber machte Stress mit seiner Tourbegleiterin und verschimpfte backstage im Ekkehard die Schweizer Verhältnisse, dabei sollte der Tourort Basel (Totentanz) mit dem bösen Pharmariesen, den er im Valium-Song Rowche Rumble attackiert hatte, erst noch folgen.
Was abseits der Bühne passierte, hatte wenig Einfluss aufs Konzert: Das wurde, auf dem Plakat angesagt auf «19.62» Uhr, also kurz nach acht, zum Ereignis. Schön dadaistisch inszeniert: Im originalen Blauhemd der FDJ (Freie Deutsche Jugend) der DDR und hinter einer Tigermaske versteckt, rief einer zur Fall-Aufmerksamkeit – Felix Kälin, Buchhändler, Kunstaktivist und später Musikprogrammchef in der Kaserne Basel. Dann jagte die Gruppe, angetrieben von zwei Schlagzeugern, stoisch einen Kracher nach dem andern durch den Saal, auf der Setlist unter anderem Tempo House, I Feel Voxish und der sagenhafte Fussballsong Kicker Conspiracy.
Die Erinnerung ist schwammig, aber der Sound muss so gut gewesen sein, dass eine Live-Aufnahme vom Ekkehard auf das Compilation-Album Hip Priests and Kamerads kam – St.Gallen wird dort neben den Studios in Rochdale und Reykjavik hervorgehoben. Der Song? Mere Pseud Mag. Ed., just vor Hard Life In Country, in dem Smith vom Drang berichtet, das Landleben wegsaufen zu müssen.
Im gut hundertköpfigen Publikum wurden die Aggressionen der Band zurückgekoppelt; es gab gegenseitige Anfeindungen, vor allem eine Horde Vorarlberger Punks war angesäuert. In der Folge viel Suff und Zoff, bis hin zu einer Massenschlägerei. Der kräftige Schreiner Stebler versuchte tatkräftig zu beruhigen, Frey musste den Hotelier trösten, im Saal blieben allerhand Schäden wie zerbrochene Stühle zurück, nebst Ratlosigkeit. Kohle hatten die IG-Kohle-Aktivisten keine übrig, schon gar nicht für den Scherbenhaufen. Die Gage war klein, drum wohl hatte man keinen Eintritt verlangt, sondern nur einen «Austritt». Keine Hutsammlung, sondern eine Urne, die am Ausgang zur Kollekte postiert wurde, tatsächlich, eine Urne für The Fall in St.Gallen. Wenn sie das jetzt in Manchester wüssten.
Fund auf dem Estrich
Viele Jahre später fand Pius Frey bei einer Dachrenovation auf seinem Scheunenboden einen verstaubten Harrass mit Platten drin: ein Rest von Fall-Platten, die er damals «nach dem ganzen Stress» in den Estrich geworfen hatte. Darunter die ersten Singles der Band: Bingo Master’s Break-Out und It’s The New Thing, angegraut, mit Wasserschäden, aber ein wunderbares Geschenk für einen Fan aus Rorschach…
Obs am Stress von 1983 lag, dass The Fall in den weiteren 35 Jahren nie mehr im Osten der Schweiz auftauchen sollten, bleibt dahingestellt. Niemand mochte sie buchen, weder die Grabenhalle noch später das Palace und schon gar nicht das Hippiefestival im Sittertobel. Ein Ruf ging ihnen voraus, der Stress wurde nicht kleiner, wie etwa der Conrad-Sohm-Veranstalter in Dornbirn bezeugen kann, wo Smith 2002 nach 15 Minuten von der Bühne verschwand und die Band allein weiter spielen liess. Das allerletzte Fall-Konzert in der Schweiz fand 2011 erneut in der Nähe statt, im Salzhaus Winterthur, grossartig. Doch St.Gall blieb von St.Fall verschont, im Guten wie im Schlechten.
Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.