«Eine Stadt, die sich traut zu leben»
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Das tschechische Bier blieb uns schier im Hals stecken, als wir gegen Ende unserer Ferien mal schauen wollten, wies in St.Gallen so läuft. «Wegen Lärmklagen: Polizei drohte Weihern Openair mit Festivalabbruch», so die Schlagzeile im «Tagblatt».
Respekt, dachten wir. Das St.Galler Festival, das früher unplugged hiess und auch heute überwiegend Singer-Songwriter-Sound und nicht «Bumm-Bumm» bringt, hat es tatsächlich geschafft, sich Lärmklagen einzuhandeln! Das Grinsen verschwand aber gleich wieder, denn bei den Beschwerden am Donnerstag und am Freitag handelte es sich offenbar lediglich um eine Handvoll – nicht um hunderte, wie wir angenommen hatten.
Es waren «weniger als zehn», hiess es seitens Stadtpolizei. Die genaue Zahl wurde nicht verraten – bis heute nicht. Selbst die Veranstalter wissen nicht, wie viele es waren. Eine Frechheit, wenn man bedenkt, dass man als Veranstalter jedes Detail abklären, vorzeigen und bewilligen lassen muss. In Sachen Transparenz gelten für die Polizei offenbar andere Regeln.
Geheimnisvolle Lärmklagen
Nochmal im Zeitraffer: Am Donnerstag sah man keinen Grund, einzuschreiten aufgrund der Lärmklagen. Auch in punkto Littering und Sicherheit auf und neben dem Festivalgelände habe es nichts zu beanstanden gegeben, sagt Dario Aemisegger, der Veranstalter des Openairs. Am Freitag an der Lagebesprechung mit dem Quartierpolizisten wurde er auch dementsprechend informiert.
Trotzdem kam es wenige Minuten später, kurz vor der Türöffnung um 18 Uhr, zu einer telefonischen Intervention durch den Lärmbeauftragten der Stadt, in der plötzlich von «vielen Lärmklagen» die Rede war und mit dem Abbruch des Festivals gedroht wurde. Auf Aemiseggers Vorschlag, am laufenden Abend objektive Lärmmessungen in den betroffenen Gebieten vorzunehmen, sei er nicht eingegangen.
Aemisegger hatte den vom Lärmschutzbeauftragten verfügten Wert von maximal 93 Dezibel brav eingehalten. Also haber er den Quartierpolizisten gebeten, die Sache nochmals abzuklären – mit dem gleichen Ergebnis wie am Nachmittag: alles bestens, keine Beanstandungen oder relevante Lärmklagen.
Trotzdem standen laut Augenzeugen um 22.05 Uhr plötzlich drei ziemlich forsche Polizeibeamte auf der Matte und drohten erneut mit einem Festivalabbruch, weil «nach 22 Uhr angeblich Lärmklagen in grosser Zahl» eingegangen seien. «Wir können uns nicht erklären, wie das gehen soll», schreibt Aemisegger dazu. «Wie innert 5 Minuten einerseits eine so grosse Menge an Lärmklagen eingehen kann und wie man dann auch noch so schnell bei uns auffahren kann.»
Die Polizei ist am «Debriefing»
Das Vorgehen wirft Fragen auf: Wer hat den Einsatz angeordnet? Der Leiter der Abteilung Bewilligungen bei der Stadtpolizei, der an diesem Abend auch diensthabender Offizier war? Wieso wurde die Lärmbelastung in den angeblich betroffenen Gebieten nicht sofort gemessen? Warum spricht der Lärmbeauftragte schon um 18 Uhr von «vielen Lärmklagen», obwohl der zuständige Quartierpolizist gleichzeitig nichts darüber in Erfahrung bringen kann?
Im Interview mit TVO vermutet Aemisegger, dass «einzelne Beamte ein Interesse daran haben, den Anlass so zu drangsalieren, dass er nicht mehr stattfinden kann». Ähnlich quittiert auch Nacht Gallen, der städtische Verband der Bars, Clubs und Veranstalter, den Vorfall: «Einmal mehr hat ein Veranstalter die Willkür einzelner Personen aus der Verwaltung der Stadt St.Gallen zu spüren bekommen. Das ist skandalös und darf nicht einfach so hingenommen werden.» Beide, Aemisegger und Nacht Gallen, verlangen eine lückenlose Aufarbeitung der Ereignisse – samt Konsequenzen, sollte sich der Verdacht bestätigen.
«Bei grösseren und wiederkehrenden Veranstaltungen gehört ein Debriefing durch die Stadtpolizei zum normalen Ablauf», erklärt Heinz Indermaur, Direktionssekretär Soziales und Sicherheit der Stadt St.Gallen, auf Anfrage von Saiten. «Beim Weihern Openair ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Wir prüfen derzeit, wie durch die Bewilligungsbehörde im kommenden Jahr den verschiedenen Interessen und Rahmenbedingungen Rechnung getragen sowie der Ablauf optimiert werden kann. Mit dem Veranstalter stehen wir in Kontakt.»
Das «ständige Minütelen»
Ob man das Weihern Openair nun mag oder nicht, ist völlig irrelevant, denn das Vorgehen der Behörden tangiert auch andere. Immer wieder hört man ähnliche Geschichten von Veranstaltern, Beizern und Gastronominnen in St.Gallen: Dass der Lärmschutz auch gern mal in der Nachbarschaft herumtelefoniere, um zu fragen, ob es um die Beiz nebenan wirklich nicht zu laut war. Dass regelmässig mit Bewilligungsentzug oder Schliessung gedroht werde, wenn man einmal fünf Minuten überwirtet oder sich jemand beschwert.
«Dieses ständige Minütelen hatte ich irgendwann satt», erzählt eine ehemalige Beizerin. «Ich habe etliche Bussen bezahlt, nur weil noch jemand auf der Toilette war zwei Minuten nach Betriebsschluss.» Fast alle, die man fragt, sagen, dass vermutlich kein System dahinter stecke, dass es aber sehr wohl einzelne Beamte gebe, die die Szene bewusst schikanierten, dass die eine Hand oft nicht wisse, was die andere mache oder dass es immer wieder «Gemauschel» gebe seitens der Behörden. Von Zuckerbrot und Peitsche ist die Rede. Und davon, dass man ständig in der Position eines Bittstellers sei, statt unterstützt und beraten zu werden.
«Wir wurden schon gebüsst wegen einer Lärmklage, obwohl selbst die kontrollierenden Beamten kein Lärm feststellen konnten», sagt Florian Reiser von der Focacceria. «Oft ist es reine Schikane… Als ich noch das Restaurant Lagerhaus führte, kam die Polizei teils schon vor zehn mit angeblichen Lärmklagen. Einmal hat man uns bei einem sehr wichtigen Anlass sogar ohne Vorwarnung, trotz bewilligter Verlängerung, den Stecker um 23.30 Uhr gezogen, und das auf eine absolut unakzeptable Art und Weise. Das Pikante daran: Die einzige Nachbarin war die Polizei selbst, die sich bei offenen Bürofenstern gestört fühlte.»
Reiser wünscht sich eine «Willkommenskultur», auch seitens der Behörden. «Wir alle brauchen eine Stadt, die lebt – also brauchen wir auch Beamte, die sich trauen, leben zu lassen.»
Angst vor Repressalien
Fairerhalber muss man auch sagen, dass Kugl und Grabenhalle im Moment kaum Probleme haben. «Wir haben jedes Jahr einen Runden Tisch mit den Behörden», sagen die Verantwortlichen bei der Grabenhalle. «Erst kürzlich war es wieder soweit. Es gab nichts zu beanstanden.» Dani Weder vom Kugl geht es ähnlich: «Zurzeit läuft alles reibungslos. Wenn etwas schiefgeht, liegt es an uns.»
Das ist gut und recht und erfreulich, gerade im Fall Kugl. An der Sache ändert sich damit jedoch wenig: Ausser Reiser will sich kaum jemand von den befragten Veranstaltern und Beizern öffentlich äussern. Aus Angst. Angst, dass es beim nächsten Mal keine Verlängerung mehr gibt, dass gewisse Bewilligungen entzogen oder gar Läden dichtgemacht werden.
Das nennt man Repression: Wenn Beizer, Kulturschaffende und Veranstalterinnen sich nicht trauen, die Behörden zu kritisieren aus Angst um die eigene Existenz. Kommt hinzu, dass Anlässe wie das St.Gallerfest oder die Olma, wo jedes Jahr etliche Lärmklagen eingehen, nie ernsthaft in Frage gestellt werden. Ein Schelm, wer dabei an (selektives) Standortmarketing denkt.
Die Namen der verantwortlichen Beamten wurden auf ausdrücklichen Wunsch hin gelöscht. Saiten bietet ihnen gerne die Gelegenheit zur Stellungnahme.