Eine Region im Krankenbett
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Die Ostschweiz verstehen, will man das überhaupt? Das Theater Jetzt bietet zumindest einige lohnende Ansätze, um der chnustigen Ostwindseele auf den Grund zu kommen. Ob das Verständnis danach grösser ist, müssen alle für sich entscheiden, aber eine gute Einführung in die Kämpfe und Krämpfe der hiesigen «Bücklinge», wie die Ostschweizerinnen und Ostschweizer einmal bezeichnet werden, ist das Trainingslager auf jeden Fall.
Am Schluss liegt – natürlich – alles in Trümmern. Wie die Expo 2027 oder der «bürgerliche Schulterschluss» bei den St.Galler Stadtratswahlen. Dabei beginnt alles so vielversprechend, Rudolf Emil Pfändler Leutolf (Oliver Kühn) hat nämlich Grosses vor. Zeus hat es ihm eingeflüstert und Bundespräsident Giuseppe Motta gab ihm dazu den Segen: Ein Olympiastadion bauen, zmitzt in St.Gallen.
Eine solche Idee geisterte 1929 tatsächlich herum. Théo Buff hat sie für sein Buch St.Gallen – eine Stadt wie sie nie gebaut wurde aufgearbeitet. Dort findet man eine Zeichnung für ein geplantes Olympiastadion. Die Bildlegende dazu: «St.Galler Stadion für die Olympiade anno 193? im Tal der Demut. Nach einer Idee von Rud. Pfändler, umfassend Riesenhotel, Cafés, Autorennbahn, Fussballplatz, Bassin für Ruder- und Schwimmsport, Turnplatz, Flugplatz mit Tribünen etc. an Stelle der jetzigen Falkenburg.»
«Mer müesst emol allne e so richtig bewiese, wer mir sind und wa mir chönd», schwingt sich der heutige Rudolf Emil Pfändler Leutolf auf, musikalisch unterstützt von seiner original Tessiner Ständerlampe (Sandro Schneebeli). Er hat olympisches Feuer gefangen, redet sich in Rage, fabuliert von der Grossartigkeit und dem Potenzial, das ein solches Unterfangen mit sich brächte, turnt seine Vision vor wie ein Gymnast seine Kür – und die Stammtischkumpels im «Frohsinn» gaffen teilnahmslos in den Kafi Lutz.
«Bringt üs so öppis au öppis?»
«Gut und schön», finden sie, «aber wer soll das bezahlen? Was haben wir davon?» Ja, und überhaupt: Wer soll das organisieren? Ein gutschweizerisches OK, wer sonst!?, pariert Rudolf Emil Pfändler Leutolf die Angriffe und kann seine Kumpels allmählich vom Sangaller Olympia überzeugen. Zusammengesetzt ist das OK aus ihm selbst, dem Innerrhödler Holznagler Josef Inauen, dem «radikal-rustikalen» Josef Alder aus AR, der eigentlich Zürcher ist, und der Perlen tragenden Quotenfrau Renate aus Langrickenbach TG (Martina Flück).
Es kommt nicht zum befürchteten Planungsmarathon. Statt dass alle vier OK-Kantone an einem Strick ziehen, endet es in einem Tauziehen, früher auch mal eine olympische Disziplin übrigens, und so steht Rudolf Emil Pfändler Leutolf bald wieder allein in der Arena – und muss sich in Ursachenforschung üben.
Warum schafft man es in der Ostschweiz partout nicht, etwas Grosses auf die Beine zu stellen?, fragt er sich und hat dafür mehrere Erklärungen. Und ein bisschen Hilfe von der gspürigen Thurgauerin Renate. Nur soviel sei verraten: Es hat etwas mit Kraftbäumen und dem «voralpinen Bangladesch» zu tun, das sich nie mit gewissen Veränderungen versöhnen konnte.
Am Schluss macht es der gebeutelte Rudolf Emil Pfändler Leutolf auf eigene Faust und setzt an zur dreifachen olympischen Fackelrolle – was eh brachial schiefgeht. Aber er hat es immerhin probiert, was schon viel ist für einen Ostschweizer. Sein Traum ist zwar geplatzt, aber so findet er immerhin die Zeit, dem Publikum vom Krankenbett aus die tragikomische Geschichte seiner Nicht-Olympiade in St.Gallen zu erzählen, stets unter strenger Beobachtung von «Frau Doktor» (wiederum Martina Flück).
Weitere Vorstellungen:
22., 27. und 29. November sowie 22. und 23. Januar, Militärkantine St.Gallen
Vorstellungen im Januar und Februar in Sirnach, Kreuzlingen, Balgach, Trogen und Herisau
Spielplan, Daten und weitere Infos: theaterjetzt.ch
Das Feuerzeug, das gern eine Fackel wäre
Diese Kulisse – Krankenbett (Stefan Kreier), Ständerlampe, Dämmerlicht – passt wie der Aufwärtshaken aufs maskenpflichtige Kinn. Ein surreales Krankenzimmer und unmittelbar davor das ausverkaufte Publikum, alle (bis auf einige Diven) brav vermummt. Die 70-minütige Besuchszeit in diesem Zimmer ist um einiges spannender als im kommunen Spital, was einerseits den vielen Spitzen und der launigen Gitarrenmusik zu verdanken ist und andererseits dem Spiel von Oliver Kühn.
Trainingslager ist eigentlich ein Solostück. Die Lampe, die Frau Doktor und Renate sind «nur» Zudienerinnen. Es steht und fällt mit Kühns Präsenz. Diese hat am Freitag, um in der olympischen Metapher zu blieben, wohl einen Podestplatz verdient. Das Energielevel ist von Minute eins hoch, der Blick wahnsinnig, der Körpereinsatz gross. Dabei sein ist alles.
Gegen das Ende hin flacht die Kurve etwas ab, was aber der Dramaturgie geschuldet ist. Bei Kühns dreifacher olympischen Fackelrolle jedenfalls ist der Höhepunkt erreicht, beinah hat man Angst, er kracht ins Publikum und nicht nur zurück in die Realität. Klar, es folgt der tiefe Fall, Höhen und Tiefen liegen nah beieinander im Trainingslager, diese Bipolarität ist stets spürbar und wird von Kühn eindrücklich verkörpert.
Darum ist das Stück auch nicht einfach nur lustig, sondern in sich auch recht tragisch – gerade wenn man es als Psychogramm der Ostschweiz liest. Sie ist ein bisschen wie das olympische Feuer, das Rudolf Emil Pfändler Leutolf am Anfang schwingt: ein Feuerzeug, das eigentlich gern eine Fackel wäre, sich aber nicht recht traut.