Eine kleine Ewigkeit reicht auch

Man könnte ja meinen, dass mensch sich 2022 nicht mehr rechtfertigen muss für Beziehungsformen, die nicht «der Norm» entsprechen. Beziehungen und insbesondere Liebesbeziehungen waren schon immer ein buntes Wirrwarr, ein weites Verhandlungsfeld, und die Idee der romantischen monogamen Ehe ist historisch gesehen ein noch eher junges Phänomen. Lange war sie einfach Mittel zum Zweck. Und ein Machtinstrument.
Aber die Realität ist nun mal eine schroffe Küste, wo sich vielfältige Lebens- und Liebesformen eher schwer kultivieren lassen. Lesbische und schwule Verflechtungen haben zwar mittlerweile einen Platz, aber non-binären oder trans Gewächsen etwa fehlt oft noch der gesellschaftliche Boden, wie kürzlich der Shitstorm um Kim de l’Horizons Blutbuch wieder gezeigt hat. Und wenn diese Menschen mit ihren Beziehungen toleriert werden, dann bitte nur zu zweit und gefälligst treu, damit die Überforderung nicht zu gross wird.
In der Tat ist die Beziehungsvielfalt natürlich grösser. Dem wollte auch die kantonale Gleichstellungsförderung Rechnung tragen und lud in der diesjährigen Pride Month-Spezial Edition der Gesprächsreihe «Gender Matters» im Raum für Literatur zur Diskussion über queere Lebens- und Liebesformen.
Gleichstellungsarbeit könne sich 2022 nicht mehr nur noch einem binären System zuwenden, sagt die Gleichstellungsbeauftragte Rahel Fenini in ihrer Begrüssung. «Wir müssen realisieren, dass es einen ganzen Regenbogen von Geschlechtsidentitäten, Geschlechtsausdrücken, sexuellen Orientierungen und Lebens- und Liebesformen gibt.»
Generationengespräch «light»
Eingeladen sind Sylvie Keller (24), Coiffeuse und Queer-Aktivistin, Nadine Brugger (35), Pflegefachfrau und Mutter und Liam Delarus (27), Podcaster*in und Social Media Manager*in.
Der Älteste in der Runde musste leider wegen Corona absagen, also arrangierte sich Moderator Florian Vock wohl oder übel mit einer Light-Variante des vorgesehenen Generationengesprächs. Was ein wenig schade ist, da es sicher bereichernd gewesen wäre, zu erfahren, wie die queere Community in den 70er- und 80er-Jahren beziehungstechnisch getickt hat. Und so hat auch niemand widersprochen bei der These, dass polyamore und andere Beziehungsformen ein eher «junges Phänomen» seien.
Lohnend war das Gespräch natürlich trotzdem. Alle waren sich einig, dass der Blick über den monogamen Tellerrand ergiebig und aufregend ist. Aber auch arbeitsreich. Polyamore Beziehungen haben alle schon gelebt, aus verschiedenen Gründen, sei es, weil sie sich nicht festlegen wollten, wegen der Unabhängigkeit oder weil das Leben und Lieben mit mehreren Menschen an der Seite einfach «so exciting» (Liam Delarus) und bereichernd ist.
Offen zu sein und offen zu bleiben ist allen Gästen sehr wichtig, Veränderungsfreudig zu leben. Die Idee der monogamen Zweierbeziehung fusse auf einem falschen Sicherheitsbedürfnis, sagen sie. «Wir Menschen denken zu fest in die Ewigkeit hinaus», erklärt Sylvie. «Wir stressen uns, weil wir alles für immer wollen. Aber wenn man mit sich selber am glücklichsten ist und mit sich selber zufrieden ist, ist es gar nicht nötig, eine Beziehung bis ans Lebensende zu haben. Dann ist die Beziehung ein schöner Zusatz, aber nicht etwas, das man braucht.»
Ein monatliches «Für immer»
Sagt die Frau, die früher polyamor lebte und heute in einer monogamen Zweierbeziehung ist – «aber wer weiss, wie lange noch». Ähnlich bei Nadine Brugger, zehn Jahre führte sie mit einem Mann eine offene Beziehung, heute hat sie eine Partnerin und guckt «nicht mehr nach rechts und links». Auch sie plädiert für weniger Ewigkeit, sondern für ein «monatliches Für-immer».
Liam pflichtet bei: «Was gibt es Schöneres, als sich immer wieder neu für jemanden zu entscheiden. Oder für mehrere Menschen.» Man müsse wegkommen von der Vorstellung, dass eine einzige Person einer anderen alles geben könne, sagt Liam, dass man alles gleichzeitig sein müsse: Gesprächspartnerin, Komplizin, beste Freundin, Objekt der Begierde und so weiter. Alle nicken.
Gender Matters, Edition X:
8. Dezember, 19 Uhr, Raum für Literatur
Opferberaterin, Autorin und Kolumnistin Agota Lavoyer spricht über sexualisierte Gewalt an Kindern, Prävention und über ihr erstes Kinderbuch «Ist das okay?»
Einfacher wird die Beziehungsarbeit dadurch nicht, auch darin sind sich die Gäste einig. Mit mehreren Menschen unterschiedliche Beziehungen zu führen, sei «zeitintensiv und manchmal auch erschöpfend». Communication is Key – natürlich –, aber wie man zum Beispiel einen Umgang mit dem Thema Eifersucht findet, bleibt eine individuelle Frage. Da gehen die Meinungen auseinander. Von «Eifersucht kenne ich nicht» über «Eifersucht ist nur ein Konflikt zwischen Selbst- und Nächstenliebe» bis zu «man muss sie immer wieder thematisieren» ist alles dabei. Ein globales Thema eben. Und eines, das mutmasslich alle Beziehungsformen betrifft.
Es wird lange und breit diskutiert an diesem Abend. Auch über Vorurteile, anstrengende Aufklärungsarbeit, Beziehungsvorbilder, eigene und fremde Erwartungshaltungen, den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit diversen Beziehungs-, Lebens- und Liebesformen oder darüber, was man aus polyamoren Konstrukten über die Monogamie lernen kann. Am Schluss geht es dann aber doch wieder um ganz praktische Dinge: Wie reden? Mit wem reden? Worüber reden? Und wie war das nochmal mit dieser Eifersucht?